Mitja I: Prokofjew und Schostakowitsch mit dem MDR Sinfonieorchester




Info
Künstler: MDR Sinfonieorchester

Zeit: 11.11.2017

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Roger & Renate Rössing (Deutsche Fotothek)

Internet:
http://www.mdr-konzerte.de

Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch hatten einiges gemeinsam, aber ihre musikalischen wie strukturellen Karrieren weisen auch sehr markante Unterschiede auf. Werke von ihnen in einem Konzertprogramm zu vereinen ergibt natürlich prinzipiell Sinn, und die Planungsfraktion der Konzerte des MDR Sinfonieorchesters hat für das zweite „Reiheins“-Konzert der Saison 2017/18 ebenjenes getan. Mit einem reichen Zuschauerzuspruch belohnt wird sie dafür freilich nicht: Der Große Saal des Gewandhauses ist nur zur reichlichen Hälfte gefüllt – es ist Samstagabend und zudem Karnevalsauftakt, was die an diesem Wochentag sowieso schon immense Alternativenvielfalt noch einmal ansteigen läßt. Die Nichtanwesenden, soviel sei vorausgeschickt, verpassen allerdings ein überwiegend richtig interessantes Konzert, das zugleich den Auftakt einer ungewöhnlichen Serie für den Rezensenten bildet: Innerhalb von knapp vier Wochen erlebt er mit drei der großen sächsischen Orchester gleich vier zumeist große Werke aus der Feder Dmitri „Mitja“ Schostakowitschs. Hier geht’s zu den Rezensionen zu Mitja II, Mitja III und Mitja IV.

Vor der Pause erklingt das 2. Konzert für Violine und Orchester g-Moll op. 63 von Sergej Prokofjew, ein Werk, das er 1936 schrieb, nachdem er in die nunmehrige Sowjetunion zurückgekehrt war – er hatte Rußland nach der Revolution verlassen und in verschiedenen europäischen und amerikanischen Städten gelebt. Nun waren stilistische Experimente im Hinblick auf westeuropäische Moderne in der Sowjetunion des Jahres 1936 verpönt – justament am Anfang des Jahres hatte die Prawda den berühmt-berüchtigten, von Stalin zumindest redigierten, wenn nicht selbst verfaßten Artikel „Chaos statt Musik“ veröffentlicht, wonach Aberhunderte Künstler auf die Abschußliste der stalinistischen Kulturbürokratie gerieten, während Schostakowitsch, der mit seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk sozusagen das Faß zum Überlaufen gebracht hatte, aus noch heute nicht ganz geklärten Umständen am Leben gelassen wurde und Stalin letztlich um 22 Jahre überlebte, während Prokofjew erst 1948 mit der zweiten Anti-Formalismus-Welle direkt angegriffen wurde und kurioserweise fünf Jahre später am gleichen Tag wie Stalin starb. Expliziten Anlaß zur Brandmarkung hatte sein zweites Violinkonzert (abgesehen davon, dass es genretypisch in politischer Hinsicht völlig „unnütz“ war) nicht gegeben, und zudem arbeitete der Komponist gern mit im Sozialistischen Realismus wohlgelittenen vertraut-slawischen Musikidiomen, etwa gleich zu Beginn des eröffnenden Allegro moderato. Deren Interpretation gelingt dem aus der Ukraine stammenden Solisten Valeriy Sokolov an diesem Abend in Leipzig richtig gut, und obwohl im Orchester anfangs noch einiges wackelt, lassen die rasenden, über einen Cello-Zupfgroove gelegten Passagen mit ihren Mussorgski-Reminiszenzen wenig zu wünschen übrig. Dass das einleitende Stimmungsidyll bald gestört wird, vollzieht sich planmäßig, die negative Stimmung mutet allerdings eher nervös als bedrohlich an. Wie die zentrale Beschleunigung abgewürgt wird, stellt Dirigent Stefan Asbury und seinen Musikern ein exzellentes Zeugnis aus – dass der Dirigent wenig große Linie ins Geschehen bekommt, liegt daran, dass Prokofjew eine solche nur bedingt vorgesehen hat. Auch in der Fortsetzung des Satzes finden sich immer wieder stimmungsmäßig sehr gelungene Passagen, etwa die sinistren Zupfparts über der großen Trommel oder auch der witzige Satzschluß.

In klassischer Konzertform steht an Position 2 der langsame Satz, hier ein Andante assai, das Asbury zunächst sehr weit zurücknimmt. Trotz aller Entspannung macht das Holz doch unauffällig Tempo, und noch weitere Dinge vollziehen sich in diesem Satz alles andere als an klar und deutlich: die Hinführung zur Dramatiksteigerung, der kuriose anämische Bombast, der Scheintriumph – all das verschleiern die Beteiligten gekonnt, so dass der friedliche Schluß mit Cellosoli und Violinzupfern keine große Überraschung mehr darstellt.

Mit rauhem Charme beginnt das abschließende Allegro ben marcato, und bald wird ein markanter Unterschied zwischen Prokofjew und Schostakowitsch deutlich: Humor hatte bei letzterem nahezu immer einen doppelten Boden, während Prokofjew Witz meint, wenn er Witz schreibt, also etwa einen klappernden Knochenwalzer komponiert wie hier. Sokolov liefert sein Meisterstück, wenn er einzelne Spritzer über den finsteren Kontrabaßteppich gibt, der Satz hangelt sich von einer Wendung zur anderen, und der Schlußwitz kommt wieder mal recht plötzlich. Der Applaus bleibt insgesamt eher verhalten, aber doch intensiv genug, um Sokolov bereits im zweiten Vorhang eine Zugabe zu entlocken – nicht Bach wie viele Kollegen an gleicher Stelle, sondern Kreisler, wofür er beinahe mehr Applaus erhält als für das Violinkonzert vorher.

Dmitri Schostakowitsch hat sich in mehreren Sinfonien der Aufarbeitung vergangener Geschehnisse gewidmet – bisweilen unfreiwillig, wenn man etwa die parteipathetischen Schlußchöre der Zweiten und der Dritten sieht, die man ihm einzufügen nahegelegt hatte. Seine Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 hingegen versah der Komponist wohl nicht zufällig mit einem doppelten Boden: Zwar trägt sie den Untertitel „Das Jahr 1905“ und widmet sich der Niederschlagung der Petersburger Arbeiterdemonstration vom 9. Januar des besagten Jahres, die der Zar von seinem Militär niederschießen ließ, doch wurde das Werk 1957 geschrieben, also unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn durch das sowjetische Militär, und so lag die in Intellektuellenkreisen verbreitete Deutung, der Komponist habe die 1905er Geschehnisse in einer Art Parabel verarbeitet, nicht fern, auch wenn man die natürlich in keiner offiziellen Veröffentlichung aus der Sowjetzeit findet.

Die zwar in vier Sätze unterteilte Sinfonie wird weitgehend attacca durchgespielt und hebt mit der akustischen Schilderung eines russischen Wintermorgens an, der in der Alternativdeutung vielschichtig interpretierbar wäre. Dem Orchester gelingt eine recht entrückt wirkende Einleitung – dafür, dass die Hustgeräusche aus dem Publikum das Trompetensignal verhageln, kann es ja nichts. Die Entwicklung verläuft enorm zäh, Asbury und seine Musiker schaffen es aber, diese zähe Düsternis nicht langweilig werden zu lassen. Selbst das Seitenthema aus der Flöte wirkt im Kontext tieftraurig, und die sich ganz langsam herausschälenden dynamischen Elemente stören die Dunkelheit vorerst nicht. Nahtlos geht dieses „Platz vor dem Palast“ überschriebene Adagio in den „9. Januar“ betitelten zweiten Satz über. Da Asbury Tempo und Lautstärke programmgemäß bisher enorm weit unten gehalten hat, entfaltet schon der erste Orchesterausbruch eine starke Wirkung, aber das Geplänkel setzt sich fort, und einige Momente der Ruhe sind trügerisch. Asburys Gespür für Dynamik entfaltet sich dann in der Kampfszene am allerdeutlichsten, wobei Schostakowitsch ihm mit der sehr naturalistischen Tonmalerei eine Steilvorlage gibt: Eindrucksvoller hat man selten in musikalische Mittel umgesetzt gehört, wie Soldaten eine Demonstration zusammenschießen. Das musikalische Geschehen ist an Eindringlichkeit kaum zu überbieten, zumal es deutlich überraschender über den Hörer hereinbricht als etwa das sich langsam nähernde Inferno des ersten Satz der Siebenten. Hier in der Elften müssen vor allem die sechs Schlagzeuger enorm viel leisten, und das tun sie auch, bevor das Getümmel plötzlich in abgrundtiefe Düsternis mündet und trotz mancher Holperer aus dem Orchester eine enorme Spannung entsteht.

Auch Satz 3, betitelt „Ewiges Gedenken“, folgt attacca: Die Celli zupfen gequält vor sich hin, bevor die Bratschen in gebotener Fahlheit „Unsterbliche Opfer“ spielen, das erste von mehreren Kampfliedern, die in dieser Sinfonie verarbeitet sind und für deren Einsatz der Komponist von der offiziellen Kulturbürokratie hochgradig gelobt und sogar mit dem Leninpreis ausgezeichnet wurde, obwohl auch hier der doppelte Boden durchaus schwankt. Asbury nimmt den dritten Satz weit zurück, verleiht ihm aber nicht die totale niederschmetternde Düsternis – statt dessen gelingt eine gekonnte Hinführung zu den kontrastierenden Bombastausbrüchen, während die Rückführung irgendwie indifferent bleibt. Die Dynamiksteigerung zum abermals attacca anhängenden vierten Satz namens „Sturmgeläut“ bleibt trotzdem groß genug, und die Tiefstreicher machen unter der „Warschawjanka“ enorm viel Druck. Das Konfliktgetümmel dieses Satzes fällt viel weniger überwältigend aus als das im zweiten, aber dafür ausdauernder, wenngleich abermals durch lange Moderato- bzw. Adagio-Passagen unterbrochen, wo das Englischhorn einen exzellenten Mix aus Melancholie und Hoffnung evoziert (hätte Schostakowitsch Aram Chartschaturjans kulturellen Background besessen, dann hätte er hier vielleicht sogar ein Duduk besetzt). Obwohl man im letzten akustischen Kampf- und letztlich Siegesgetümmel die Glocken kaum hört, bleibt der Eindruck, die eindringlichsten Kampfszenen im zweiten Satz gehört zu haben, bestehen (was schon die zeitgenössischen sowjetischen Rezensenten bisweilen erkannten und bemängelten, da ja laut dem offiziellen Programm Satz 4 die siegreiche Weiterentwicklung und Vollendung der 1905er Revolution in der von 1917 darstellen sollte), womit sich Asbury also offensichtlich im Einklang mit den doppelbödigen Intentionen des Komponisten befindet. Die Spannung steht am Ende enorm lange – keine Huster und keine vorlauten Bravi stören sie, dafür fällt der Applaus für die beeindruckende Aufführung hinterher doch ziemlich ausdauernd aus, und der Dirigent (der übrigens keine Blumen bekommt – warum eigentlich nicht?) vergißt nicht, per Klopfen auf die Partitur dem Urheber einen Applausanteil weiterzureichen.


Roland Ludwig



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