Musik an sich


Reviews
Stravinsky, I. (Roth, F.-X.)

Le Sacre du printemps (Vers. 1913) - Petrouchka (Vers. 1911)


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Orchester

VÖ: 13.06.2014

Actes Sud / Harmonia Mundi/ CD DDD (live 2013) / Best. Nr. AMS 15

Gesamtspielzeit: 68:54



WIE NEU

Schon mit der Rekonstruktion der Uraufführung von Igor Stravinskys erstem großen Pariser Balletterfolg L'Oiseau de feu haben François-Xavier Roth und sein Orchester Les Siècles gezeigt, was mit einer historisch-informierten Besetzung aus einem Klassiker des frühen 20. Jahrhunderts für aufregend neue Töne herauszuholen sind. Selbst das originale suitenartige Beiprogramm mit eher plakativen orientalisierenden Tänzen von Grieg, Glazunov und anderen, klang frisch und unverbraucht (ASM 06).

Zum Jubiläumsjahr 2013 haben die Musiker jetzt noch mal nachgelegt und die beiden anderen großen französischen Ballette aus Stravinskys erster Schaffenperiode eingespielt: Petrouchka und Le Sacre du printemps, beide in der Urfassung, versteht sich, was vor allem beim Sacre zu einigen aufschlussreichen neuen Lesarten führt. Doch das Zurück-zu-den-Quellen ist gleichsam nur die äußere Seite des Projekts; auch die darmbesaiteten Streicher, die alten Blas- und Schlaginstrumente mit ihren anderen Materialien und Mensuren sind ja zunächst einfach nur Instrumente, die erst in den Händen inspirierter Musiker ihr Potential entfalten. Und da setzten Les Siècles nur um, was schon das Credo von Altmeister Nikolaus Harnoncourt ist: Nicht skrupulöser historisierender Tourismus, sondern eine moderne, lebendige Aufführung für moderne Ohren ist das Ziel. Die Musik, gespielt mit den Mitteln der Vergangenenheit, soll klingen, als sei sie gerade erst frisch komponiert worden. Und dazu gehört immer auch das Risiko des Neuen, die Möglichkeit des Scheiterns, die Erweiterung der Grenzen.
Dass Le Sacre du printemps zu den großen Skandalstücken der Musikgeschichte gehört, hier kann man es hören: die dunkel und erdig klingenden Streicher mit ihren starken Obertonspektren, die schmetternd-scharfen Blechbläser, das gewaltig dreinfahrende Schlagwerk mit seinen unreineren Metallegierungen und echten Fellbespannungen, die große dynamische und artikulatorische Bandbreite. Das Brutale und Archaische der Musik, das bei der Premiere das Publikum so schockierte, hier klingt es noch einmal besonders wild und urtümlich, weil die Instrumente in Teilen näher an ihrem Naturzustand sind. Und der vorzügliche Livemittschnitt überträgt die Ausbrüche dieses Jahrhundertwerkes ebenso detailfreudig ins heimische Wohnzimmer wie ruhigeren Passagen.

Eine ebenso starken Eindruck hinterlässt Petrouchka. Selten erlebt man die eingenwillige Mischung aus Märchenspiel und Jahrmarktszauber, aus drastischer Klangsymbolik und raffinierter Orchestrierung so plastisch. Die 'Folklore', die beim Sacre gleichsam unter Starkstrom gesetzt wird, nimmt hier hier die Gestalt eines synästhetischen Theaters der Klänge an, in das man sich nur zu gerne verirrt. Das Orchester leistet auch hier Maßstäbliches, es malt, erzählt, inszeniert; die Instrumente agieren wie Charakterdarsteller. Nichts wirkt routiniert oder glattpoliert, doch ebensowenig wirkt die Musik gewaltsam gegen den Strich gebürstet. Die 'Unvollkommenheiten' erweisen sich als atmosphärisch höchst wirksam: die matteren, aber bunteren Farben des Metallschalgzeugs, die goldenen Klavierklänge des Pleyel-Flügels, die hymnisch-rauen Streicherwogen ... und wenn der Tanzbär unter röhrenden Bläserklängen auf die Bühne platzt, dann ist das wirklich ein Schockmoment. Man sieht, was man hört. Großartig.



Georg Henkel



Trackliste
01-13 Les Sacre du printemps (1913)
14-24 Petrouchka (1911)
Besetzung

Les Siècles

François-Xavier Roth: Leitung


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