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Zeit: 02.05.2025

Ort: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater

Fotograf: Yannic Borchert

Internet:
http://www.hmt-leipzig.de
Sonderlich viele vollendete Musiktheaterwerke gibt es von Dmitri Schostakowitsch nicht. Zählt man die Ballette und die Filmmusiken nicht zu dieser Kategorie, bleiben eigentlich nur drei, und es hätte nicht viel gefehlt, dass die Zählung bei 2 hätte stehenbleiben müssen: Bekanntlich mißfiel Stalin der Opernzweitling „Lady Macbeth von Mzensk“, und fortan hing das Leben des Komponisten über viele Jahre hinweg am seidenen Faden. Aber letztlich schaffte Schostakowitsch es, den Diktator zu überleben, und in der „Tauwetterperiode“ unter Nikita Chruschtschow entstand schließlich sein drittes vollendetes Musiktheaterwerk, die Operette „Moskau, Tscherjomuschki“, die freilich in der Breshnew-Ära gleichfalls von den Spielplänen verschwand und sich auch in der DDR keiner großen Verbreitung erfreute, obwohl der Stoff in der Sowjetunion sogar verfilmt wurde. Aber eine Satire auf korrupte Funktionäre hat es in der Obrigkeit immer schwer, denn niemand läßt sich gern einen Spiegel vorhalten, wenn er zu besagter in vielen Gesellschaftsformen vorkommenden Sorte von Menschen gehört – die Frage ist dann eben nur, ob diejenigen genug Macht haben, um Aufführungen zu ver- oder zumindest zu behindern. Jedenfalls bekommt man diese Operette auch heute eher selten vorgesetzt, und da sie außerdem nicht in den Spielplan des Schostakowitsch-Festivals im Gewandhaus anno 2025 aufgenommen wurde (dort gibt es trotz der Tatsache, dass das Gewandhausorchester auch in der Leipziger Oper spielt, nur zwei Aufführungen einer sowieso im Repertoire befindlichen Inszenierung von „Lady Macbeth von Mzensk“ und sonst überhaupt kein Musiktheater), ist es der Hochschule für Musik und Theater zu danken, dass man dieses Werk im 50. Todesjahr des Komponisten in Leipzig hören und sehen kann, sozusagen als „Vorglühen“ für das eine Woche nach der letzten der sechs Hochschulvorstellungen beginnende Festival im Gewandhaus. Der Rezensent ist beim zweiten der sechs Abende dabei und sieht diese Operette zum ersten Mal – er hat sowohl die 2006er Altenburger Inszenierung als auch die anno 2014 an der Semperoper verpaßt, kann aber letztere nun zumindest noch teilweise nacherleben, denn ihre Textfassung (Ulrike Patow, Bearbeitung: Christian Baier) kommt auch in Leipzig auf die Bühne.
Diese Bühne ist zu Beginn erstaunlich leer: Es gibt ein nach hinten stufenweise ansteigendes Podest im Stile einer großen Freitreppe (Bühnenbildnerin Barbara Schiffner könnte hier durchaus eine bekannte Szene aus „Panzerkreuzer Potemkin“ im Sinne gehabt haben) und hinten eine Videoleinwand, auf die zunächst ein klassisches sowjetisches Motiv einer glücklichen Familie vor Neubauten projiziert wird – und viel mehr an Ausstattungsgegenständen wird in den ersten zwei Dritteln der Aufführung auch nicht herangeschafft.
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Einiges schleppen allerdings die diversen Protagonisten mit sich herum, von denen drei Bauarbeiter schon eine Viertelstunde vor Beginn auf der Bühne sitzen, offenbar Baubesprechung halten und sich erst in der Ouvertüre verkrümeln. Die Handlung spielt im Moskauer Trabantenviertel Tscherjomuschki, dem ersten großen Neubaugebiet am Rande der Stadt, mit dessen Errichtung der akuten Wohnungsnot in der Stadt begegnet werden soll, so dass etlichen Familien und Einzelpersonen ein Wohnberechtigungsschein erteilt wird. Nur geht dabei nicht alles mit rechten Dingen zu:
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Lucas Reis und Victoria Grilz als Ehepaar Drebednjow |

Wawa Drebednjowa beansprucht eine Vierzimmerwohnung statt der üblichen Zweizimmerwohnung, und da ihr Gatte Fjodor ein nicht näher bezeichneter Funktionär ist (also entweder in der Partei oder in der Wohnungsverwaltung oder – wahrscheinlich – beides), verlieren statt dessen der alte Semjon Baburow und seine Tochter Lidotschka ihre Wohnberechtigung, damit die ihnen zugewiesene Wohnung mit der Drebednjow-Wohnung zusammengelegt werden kann. Hausverwalter Iwanowitsch Barabaschkin spielt derweil sein ganz eigenes Spiel und läßt sich für Dinge, die zu seiner ganz normalen Arbeit gehören (also etwa die Ausgabe der Wohnungsschlüssel gegen Vorlage des Wohnberechtigungsscheins), Schmiergeld geben. Von vornherein keinen Wohnberechtigungsschein erhalten hat Boris Koretzki, der in seiner Antrittsarie verkündet, er sei Leiter eines Sanatoriums im Nordkaukasus gewesen und nun nach Moskau zurückgekehrt. Dass dies nicht der Wahrheit entspricht, mußte Schostakowitsch sozusagen verschlüsselt darstellen, und Regisseurin Beverly Blankenship und Kreativpartnerin Schiffner hatten eine brillante Idee: Sie lassen eine Grubenlampe schwingen und machen damit klar, dass Koretzki in einem Gulag-Bergwerk geschuftet hat.
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Elie Valdenaire als Boris Koretzki |

Die deutsche Textfassung verwendet an anderer Stelle das Wort „Gulag“ beiläufig, und generell nehmen sich ihre Autoren natürlich ein paar größere Freiheiten, als sie die Originallibrettisten Wladimir Mass und Michail Tscherwinski Ende der 1950er anwenden konnten: Für einen Satz wie „Hier verschwinden Wohnungen und Menschen“ wären die beiden vermutlich selbst im Gulag gelandet. Blankenship hat in zahllosen Ländern der Welt gearbeitet, aber offenbar nicht im sozialistischen Lager – und in der Gesamtbetrachtung erstaunt, wie gut sie sich in die Doppelbödigkeit, die Schostakowitsch immer wieder auch musikalisch umsetzt und wie sie für viele Kommunikationsszenen in der Operette typisch sind, einfühlen kann. Dafür brauchen Schiffner und sie wie beschrieben gar nicht so viele Utensilien: Die Kostüme sind überwiegend realitätsnah gehalten, einige Dinge wie das historische Modell eines typischen russisch-orthodoxen Sakralbaus über einer Kleinstadt, das im Museum bestaunt wird, werden herein- und wieder hinausgetragen, und manchmal bedarf es nicht mal exakter historischer, also räumlicher Korrektheit: Der Videoschirm zeigt bisweilen auch Bauzeichnungen von Gebäuden aus Leipzig statt aus Moskau, und das Umzugsauto, mit dem die Protagonisten ihr Hab und Gut nach Tscherjomuschki schaffen, erinnert von der Form her eher an einen Trabant 601 als an ein Auto sowjetischer Produktion, welchletzteres dann aber wieder in der Videoprojektion über den Stadtplan fährt. Aber wie eingangs erwähnt: Die Grundproblemkonstellation gab es ja auch in der DDR, und es fiele ebenfalls nicht weiter schwer, sie für andere, heutzutage relevante Situationen zu adaptieren. Dass Blankenship genau das nicht tut, also der Versuchung widersteht, die Operette zwanghaft ins Hier und Jetzt zu übertragen, stellt ihr ein sehr gutes Zeugnis aus – der Zuschauer darf sich dann seine eigenen Gedanken machen.
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Halldóra Ósk Helgadóttir als Lidotschka Baburowa |

Leider gibt es nach zwei Dritteln einen Bruch in der bis dahin sehr stimmigen Inszenierung: Sprecher Benjamin Klein, der bisher mit einer (gedämpften) Flüstertüte die Akte, Bilder und Ortsangaben angesagt hat, verkündet auf einem der Höhepunkte der Krise, als die Baburows und der mit Lidotschka anzubandeln versuchende Boris tatsächlich auf der Straße stehen, weil die Bauarbeiter den Befehlen von oben gefolgt sind und die Drebednjows jetzt also eine Wohnung mit doppelter Größe haben, dass das ja eine Operette sei und jetzt ein Zauberwald wachsen müsse, um die verfahrene Situation doch noch zu retten – und genau das passiert dann auch, so dass der letzte Akt in seiner bunten Dekoration eine stilistisch völlig andere Sprache spricht, was trotz der Tatsache, dass dieser Twist grundsätzlich keine Idee der Leipziger Produktion, sondern schon von den Originalschöpfern so vorgesehen ist, irgendwie einen seltsamen Beigeschmack hinterläßt, obwohl Blankenship nach wie vor doppelte Böden en gros thematisiert und Schiffner diese überwiegend kongenial umsetzt, mit Ausnahme der gräßlichen rosa Hula-Hula-Röckchen, die alle Protagonisten in diesem Schlußteil zu tragen haben und die wenig mehr als die Aussage zulassen, dass hier jetzt tatsächlich alle gleich sind, allen Konflikten zum Trotz. Da bemerkt man mit anerkennendem Lächeln lieber die weiteren angerissenen Themen, etwa den Antijudaismus in der Sowjetunion, wenn einer der Korrupten mit „Jude!“ angeschrien wird. Dass letztlich der Mob aus Bauarbeitern und Bewohnern über den Funktionär und den Hausverwalter herfällt und die beiden verprügelt, bleibt allerdings ähnlich unreflektiert wie die Rolle der Verliererin Wawa. Ob der sich von „Frau und Kind – sind sie gesund?“ in „Frau und Kind – sind Sie gesund?“ wandelnde Übertitel in zwei der Hausverwalter-Arien in dieser Form Absicht war, muß offenbleiben. Interessanterweise tasten Schostakowitsch und seine Librettisten die „Kastenkonstellation“ der Figuren nicht an: Lidotschka und Boris (die sich letztlich natürlich kriegen) gehören ebenso der gleichen Schicht an wie Bauarbeiterin Ljusja und Chauffeur Sergej (die am Ende ebenfalls zueinander finden), vom Aspekt mal abgesehen, dass Lidotschka als Museumsführerin sozusagen an der Intelligenzija kratzt.
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Taras Semenov als Sergej Gluschkow, Isabelle Serafin als Ljusja |

Ob die resolute Ljusja mit dem dauerbesoffenen Sergej (ein bitterböser Seitenhieb, dass in der Sowjetunion der 1950er Alkohol am Steuer durchaus normal war) glücklich wird, steht freilich nochmal auf einem anderen Blatt. Ljusja ist übrigens die einzige der Hauptrollen, die nachnamenlos bleibt – zwar wird sie vielleicht demnächst zu Frau Gluschkowa, aber ihren aktuellen Nachnamen erfährt man nicht und kann ihn auch nicht erschließen, wie das z.B. bei Lidotschka anhand des Namens ihres Vaters möglich ist.
Die gespielte Fassung hat nicht nur die Zwischentexte in Deutsch, sondern auch die Arien – und da fast alle Protagonisten gut textverständlich singen, bräuchte es eigentlich die Übertitel gar nicht. Allerdings fällt auf, dass viele der Studenten mit leichtem Akzent sprechen und singen – was bei anderem Repertoire stört, fällt hier freilich nicht ins Gewicht oder könnte hier und da sogar Absicht gewesen sein. So manches Detail spricht für eine liebevolle Arbeit an den Einzelheiten, etwa wenn Isabelle Serafin als Ljusja in ihrem Liebesduett mit Taras Semenov als Sergej die Zeile „Die Liebe ist ein Blütenblatt“, also enorm vergänglich, plötzlich in einem sehr angerauhten Gestus singt. Dass man diese Ljusja ansonsten aber sofort mit nach Hause nehmen und sie, ähem, mit einem Bauauftrag betrauen würde, steht auf einem anderen Blatt, und da sie den großen Hammer, den sie permanent mit sich herumträgt, einmal auch als Luftgitarre nutzt, hat sie offenbar auch einen guten Musikgeschmack. Den hatte Schostakowitsch bekanntermaßen ebenfalls – die Musik der Operette ist enorm vielfarbig, baut geschickt Jazzelemente ein, ist, wenn’s drauf ankommt, auch mal so richtig schmalzig und enthält ein paar Nummern, die durchaus Hitpotential besitzen. Das Ganze setzt das von Matthias Foremny souverän geleitete Hochschulsinfonieorchester stark um, und auch im fröhlichen Finale bleiben die Zwischentöne nicht aus: Der Jubelcharakter ist nicht ganz so erzwungen wie etwa in der Fünften Sinfonie, aber doch penetrant genug, um klarzumachen, dass sich hier eben nicht alles in Friede, Freude, Eierkuchen auflöst, wie das für eine Operette eigentlich typisch wäre – der Zuschauer wird durchaus zum Nachdenken angeregt. Das hindert das Publikum im fast ausverkauften Großen Saal der Hochschule aber natürlich nicht am Spenden verdienten Applauses, wobei das Orchester am lautesten gefeiert wird.
Roland Ludwig

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