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Donnerstahl ohne Schlagzeug: Riot V mit Tailgunner und Chapter Eleven in Selb

Unter dem Namen Rockclub Nordbayern e.V. hat sich ein Netzwerk entwickelt, das im bezüglich harter Musik eher suboptimal versorgten äußersten Nordosten Bayerns entsprechende Strukturen aufbaut und Konzerte veranstaltet. Neben kleineren Acts aus der Region haben mittlerweile auch größere Formationen wie Primal Fear oder Iron Savior in einer von diversen Spielstätten gastiert – und nun am Himmelfahrtsabend also Riot V im Stammdomizil des Clubs, dem Bavaria-Heim im beschaulichen Porzellanstädtchen Selb, einer Lokalität von sehr überschaubarer Größe, hohem Gemütlichkeitsfaktor, aber bereits anhand der Bauart zu erahnenden nicht ganz einfach zu meisternden Soundverhältnissen. Dass der Gig noch auf eine andere Weise ein denkwürdiger wird, ahnt der Rezensent bei seinem Eintreffen noch nicht.

Als lokaler Support spielen Chapter Eleven, die bei einem Blick auf die Setlist mit „Nightfall“ oder „Mirror Mirror“ Candlemass-Erwartungen wecken – aber dann müßten sie ja Chapter VI heißen. Das Quintett hat jedenfalls mit schwedischem Epic Doom nahezu nichts zu tun – der einzige Anhaltspunkt in dieser Richtung wäre der Aspekt, dass der Bassist auch als Sänger in einer derartigen Combo anheuern könnte. Bei Chapter Eleven ist er allerdings nur einer von drei Vokalisten und der einzige, der für cleane Melodik sorgt. Der eine der beiden Gitarristen schreit enthusiastisch ins Mikrofon, und der hauptamtliche Sänger befleißigt sich eines mäßig rauhen, thrashkompatiblen Shoutens, hier und da allerdings auch andeutend, dass er Melodien halten könnte, wenn es darauf ankommt. Thrash ist’s freilich auch wieder nicht, was wir hier zu hören bekommen, obwohl der andere Gitarrist ein Pantera-Leibchen trägt. Statt dessen ist das Quintett irgendwo im modernen midtempolastigen Melodic Death zu verorten, vermutet man anhand des schwierigen Höreindrucks, der Vocals, Drums und Leadgitarren gut differenziert, Rhythmusgitarren und Baß aber oft zu einem einheitlichen Geräusch vermengt, so dass Detailanalysen schwierig sind. Der Drummer hält sich über weite Strecken in verschiedenen Midtempolagen auf, verzichtet allerdings auf metalcoreverdächtige Breakdowns und baut hier und da einige interessante Feinheiten ein. Problem von Chapter Eleven ist wie bei diversen Stilkollegen, dass sie songwriterisch zuviel wollen und hier und da eine Idee länger ausspielen, sie sozusagen atmen lassen dürften, wenngleich sie in diesem Punkt vielen Kollegen vor allem aus der Metalcore-Trendzeit durchaus überlegen sind. Arbeiten muß das Quintett auch noch an der Publikumskommunikation: Drei Leute haben ein Mikrofon vor der Nase, aber in der ersten Sethälfte hält keiner es für nötig, mal die Anwesenden zu begrüßen oder sich selbst vorzustellen. Erst in der zweiten Sethälfte taut der Sänger diesbezüglich ein wenig auf. Mit 12 Songs, die durchaus nicht ganz kurz sind, spielen Chapter Eleven für einen ersten Supportact ungewöhnlich lange, was den Nachteil hat, dass vor allem im zweiten Drittel ein paar zu ähnliche Nummern aufeinander folgen und die Aufmerksamkeit sinkt – erst im hinteren Drittel hat die Band dann noch ein paar strukturell ungewöhnlichere Songs versteckt. Da die Truppe grundsätzlich durchaus sympathisch wirkt und lokal gut bekannt zu sein scheint, erntet sie trotzdem einigen Zuspruch – und der lange Set erklärt sich später aus dem bereits erwähnten Denkwürdigkeitsaspekt.

Tailgunner kommen zu klassischen Sirtaki-Klängen auf die Bühne, aber es handelt sich nicht um Griechen, sondern um Briten, und griechische Folklore bleibt in ihren Songs dann auch komplett abwesend, wenn man mal davon absieht, dass beispielsweise das abschließende Dio-Cover „Don’t Talk To Strangers“ in Griechenland mittlerweile durchaus folkloristischen Rang beanspruchen dürfte. Die fünf Briten fegen statt dessen nach dem Intro erstmal mit vier Melodic-Speed-Songs geringfügig unterschiedlicher, aber immer enorm hoher Schlagzahl los, unter denen sich mit „Beast Of The Night“ der schwedischen Combo Randy ein weiteres Cover befindet, ehe ein klassisches Gitarrenduell in Griegs Bergkönigs-Thema mündet und darauf noch ein Cover folgt. Helloweens „Future World“ (man erinnere sich an Live In The UK) könnte man erwarten oder natürlich auch Savatages „Hall Of The Mountain King“, aber es kommt statt dessen der „Painkiller“ um die Ecke geflogen. Im Rest des Sets erinnern sich Tailgunner dann daran, dass der eine oder andere Midtemposong die Wucht des Speeds noch zu verstärken in der Lage ist – die immense Spielfreude, Frische und positive Energie aber bleibt ungebrochen. Das Quintett hat mit Guns For Hire erst einen Longplayer draußen, und der stellt neben den drei Coverversionen dann auch den kompletten Set. Sänger Craig entpuppt sich als Großer seines Fachs und meistert alle geforderten Höhen problemlos, aber die vier Instrumentalisten stehen ihm in puncto Können nicht nach, und die vier Frontleute schaffen es außerdem, auf der flächenmäßig recht überschaubaren Bühne eine Menge an Bewegung zu inszenieren, ohne sich permanent gegenseitig über den Haufen zu rennen. Basser Thomas, ein hochaufgeschossener Schlaks, stellt sich oft und gern auf die Monitorboxen und stößt dann fast oben an die Decke – Gitarristin Rhea hingegen ist physisch ein Zwerg, spielerisch aber genau so ein Riese wie ihr Gitarrenkompagnon Zach und nebenbei ein Vernetzungsergebnis: Sie spielt hauptamtlich bei einer Combo namens Rïot-Eye, die von Thomas gemanagt wird, und als der einen neuen Gitarristen für Tailgunner brauchte, war der „Dienstweg“ kurz. Frisurtechnisch sieht sie übrigens aus wie die Tochter von Mike Sifringer, und auch noch andere Mitglieder tragen Haarprachten zur Schau, die an vergangene Destruction-Zeiten erinnern. Kuriosum am Rande: Drummer Jani, aktueller finnischer Neuzugang bei der sonst britischen Band, war 2019 kurzfristig zu Asomvel gestoßen und im Dienste ebenjener mit, genau, Riot V auf Tour gegangen – Geschichte wiederholt sich also mitunter. Zwar hätte man vor allem die Gitarrenarbeit gern noch deutlich klangdifferenzierter gehört, aber auch so fegen Tailgunner wie ein frischer Frühlingswind durch die Halle, dass einem gleichfalls anwesenden einstigen CrossOver-Redaktionskollegen der anerkennend-bewundernde Fragesatz „Was war das denn?“ entfährt, worauf der Rezensent antwortet: „Das ist der Grund, warum wir Metal hören.“

Setlist Tailgunner:
Sirtaki
Guns For Hire
White Death
Beast In The Night
Warhead
Guitar Battle
Painkiller
Blood For Blood
Revolution Scream
Shadows Of War
Future’s Lost
New Horizons
Crashdive
Don’t Talk To Strangers

Riot V hatten anno 2019 in Leipzig mit einigen technischen Problemen und schwierigen Soundverhältnissen zu kämpfen gehabt – aber das ist noch nichts gegen das Problem, vor dem sie an diesem Abend stehen: Drummer Jason „Shakes“ West, der den anderweitig verhinderten Frank Gilchriest auf dieser am Vortag in Polen gestarteten Tour ersetzen soll, muß am Nachmittag in Selb mit einem medizinischen Notfall ins Krankenhaus eingeliefert werden, und alle Hoffnungen, ihn vielleicht noch rechtzeitig fitzukriegen, zerschlagen sich im Verlaufe des Abends. Was also tun? 99,99% aller Bands hätten den Gig wohl abgesagt – nicht so Riot V: Sie wagen ein zumindest nach Kenntnis des Rezensenten einzigartiges Experiment und spielen kurzerhand ohne Drummer. Melodic Speed nur mit Vocals, zwei Gitarren und Baß – kann das gutgehen? Die Band kündigt an, es einfach mal mit ein paar Songs probieren zu wollen – daher die längere Spielzeit von Chapter Eleven, sozusagen als Prophylaxe, trotzdem einen zeitlich halbwegs ordentlich bemessenen Konzertabend bieten zu können, falls der Versuch scheitern würde. Das Experiment gelingt allerdings so gut, dass der Set in fast voller Länge durchgespielt und lediglich um zwei Stücke gekürzt wird. Klar, einige Zuschauer, vor allem wohl die nicht so detailliert mit dem Material vertrauten, sind mit der Lage offenbar überfordert und verlassen nach und nach das Gebäude – das Gros aber bleibt, sorgt für prima Stimmung, feuert die Band immer wieder mit Sprechchören an und übernimmt sogar per Mitklatschen einige Einzählungen, die ansonsten dem Drummer obliegen würden. Sänger Todd Michael Hall, Gitarrist Mike Flyntz und Bassist Don van Stavern bilden seit einem Jahrzehnt ein eingespieltes Team, in dem jeder auch unter ungewöhnlichen Bedingungen weiß, was der andere jeweils tun wird, und Zweitgitarrist Jonathan Reinheimer, der auf der Tour Nick Lee vertritt, paßt sich in diese Riege von Könnern problemlos ein. Genaue Kenntnis des Materials hilft natürlich beim Nachvollziehen, und man ergänzt hier und da im Hirn einige markante Drumbreaks beispielsweise in „On Your Knees“, dem einzigen Beitrag von The Privilege Of Power. Dass Thundersteel zu zwei Dritteln durchgespielt wird und die Kenntnis seines Materials im Auditorium natürlich besonders groß ist, hilft die Lage weiter zu entspannen, und so entwickelt sich ein völlig ungewöhnlicher, aber auf eine ganz eigene Art faszinierender Gig, zumal durch das fehlende Schlagzeug das Grundgeräusch in überschaubaren Grenzen bleibt und man dadurch speziell die filigrane Gitarrenarbeit umso besser nachvollziehen kann. Außerdem gibt es ja noch den Könner am Mikrofon: Was Todd Michael Hall da leistet, gehört zur absoluten Oberklasse im melodischen Metalfach, und wenn der Mann selbst in der Zugabe „Sign Of The Crimson Storm“ schrittweise immer noch höher und immer noch höher gleitet, als ob er nicht schon einen recht anstrengenden Set in der Kehle hätte, gehen einem beim Loben langsam die Superlative aus, auch wenn der Rezensent schon vorher im zweiten Teil des „Thundersteel“-Solos quasi vor Begeisterung an die Decke gesprungen ist.
Von der Setlist her verzichten Riot V auf den Opener „Hail To The Warriors“ vom neuen Album Mean Streets, das erst am Folgetag offiziell veröffentlicht wird, und auf „Bring The Hammer Down“ vom 2014er Album Unleash The Fire. Zwei Songs des brandaktuellen Werks bleiben mit „Love Beyond The Grave“ und „Feel The Fire“ aber im Set und sind auch schon weitreichend im Auditorium bekannt – offenbar hat sich die Fangemeinde bereits detailliert mit den vorab veröffentlichten Videos beschäftigt. Als Überraschung kehrt außerdem „Restless Breed“ in die Setlist zurück und wird genauso frenetisch mitgesungen und abgefeiert wie der Rest des Gigs. „Warrior“, „Road Racin’“ und „Swords And Tequila“ stellen die weiteren Ur-Oldies des Programms, das mit „Magic Maker“ und allseitigem Jubel endet. Man hätte Riot V und speziell Shakes West (get well soon!) natürlich eine andere Lage gewünscht – aber was die Band an diesem Abend daraus gemacht hat, das ist aller Ehren wert und für die Fangemeinde eine ungeahnte Bereicherung, von der man noch seinen Enkeln erzählen wird.

Setlist Riot V:
Fight Or Fall
Victory
On Your Knees
Feel The Fire
Road Racin’
Warrior
Johnny’s Back
Restless Breed
Bloodstreets
Love Beyond The Grave
Flight Of The Warrior
Swords And Tequila
Thundersteel
--
Sign Of The Crimson Storm
Magic Maker

Roland Ludwig


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