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Versteckte Schlafwandler: Christoph Irniger mit Pilgrim und Lars Duppler mit Unbound im Jazzklub Altenburg

Info

Künstler: Pilgrim, Unbound

Zeit: 02.12.2023

Ort: Altenburg, Paul-Gustavus-Haus

Fotograf: Marco Castelberg (Pilgrim), Sandra Stein (Unbound)

Internet:
http://www.jazzklub-altenburg.de
christophirniger.com/de/bands/pilgrim/
http://www.duppler.de/Projekte/Lars-Duppler-unbound/

Beim Jazzklub Altenburg spielt üblicherweise nur eine Band pro Konzertabend, die dann aber im Regelfall zwei Sets absolviert. Das ist im Jahresabschlußkonzert 2023 anders, denn es treten zwei strukturell ähnlich besetzte Formationen mit je einem Set in Erscheinung, wobei es sich in beiden Fällen um „Stammgäste“ handelt.

Den Abend eröffnet Christoph Irniger, der schon in den verschiedensten Bandkonstellationen in Altenburg zu Gast war, letztmalig im Herbst 2022 mit einer einfach Christoph Irniger Trio geheißenen Truppe. Mit Pilgrim hat er schon zweimal hier gespielt, aber der Rezensent hat keines dieser beiden Konzerte erlebt, so dass zumindest diese Quintettbesetzung Neuland für ihn darstellt, mit Ausnahme von Bassist Raffaele Bossard freilich, der auch 2022 mit am Start war. Auch Gitarrist Dave Gisler kommt ihm irgendwie diffus bekannt vor, aber die Quelle kann bisher nicht benannt werden. Pilgrim schließen an diesem Abend die Releasetour für ihr Anfang 2023 erschienenes fünftes Album Ghost Cats ab und feiern zugleich ihr zehnjähriges Bandbestehen. Dass man es dem Publikum aber etwa leicht machen würde – Pustekuchen: Das Quintett eröffnet mit einem gigantischen Songdoppel aus dem neuen „Calling The Spirits“ und dem Titeltrack des Vorgängeralbums, „Crosswinds“, beide durch ausgedehnte Improvisationen noch zusätzlich wachsend und es summiert auf irgendwo um 20 Minuten Spielzeit bringend. Dass hier Ungewöhnliches passiert, wird schon im Intro klar, als Irniger nicht etwa in sein Saxophon bläst, sondern Glöckchen und eine Muschelpercussionskette zu schütteln beginnt, und das tut er während des gesamten Sets ungewöhnlich oft, den perkussiven Aspekt des Materials stark hervorhebend, ohne ihm damit aber einen fixierten Rhythmus zu verleihen. Besagtes Intro entwickelt sich wabernd und kreisend, die thematische Herausschälung braucht enorm viel Zeit, und als dieser Prozeß dann erstmal abgeschlossen ist, bleibt das Geschehen trotzdem im Downtempo-Bereich. Das soll freilich nicht bedeuten, dass Michael Stulz hinter seinem Drumkit zum Stoiker mutiert wäre – ganz im Gegenteil: Er arbeitet äußerst intensiv und zugleich vielschichtig, schlägt seine Becken auch mal mit Glöckchenketten und anderen Utensilien an, hat nicht selten einen Stick zwischen den Zähnen, um ggf. schnell wechseln zu können, wenn er gerade mal mit Besen spielt, und macht eher den Eindruck eines Hyperaktiven als eines Stoikers. Mit den Minuten wird die Nummer auch etwas wilder, und Gisler darf ein klassisches Metalgitarrenheldensolo einstreuen, obwohl er gar nicht wie ein Metalgitarrenheld aussieht. Der „Crosswinds“-Teil repliziert einige Gedanken von „Calling The Spirits“ wie etwa das wabernde Intro, gerät aber ein wenig zugänglicher, was die Themenarbeit angeht, wenngleich Irniger sein erstes Saxophon-Thema schon mal konsequent ins Nichts führen läßt. Später wird die Nummer aber extrem percussionlastig, und Stulz spielt völlig irre Figuren, unterstützt abermals durch Kettenpercussion von Irniger, ehe dieser und Gisler mit so etwas wie eingängiger Thematik diesen riesigen Doppelsong zu Ende bringen. Zur Erholung gibt es dann „etwas Ruhiges“, wie Irniger verspricht, nämlich die Ballade „Aeon“ aus der Feder von Bossard, die trotzdem einige relativ komplexe Figuren enthält, aber immer im vorgegebenen Stimmungsrahmen bleibt, wobei der Fender-Rhodes-Spieler Stefan Aeby hier mal etwas markantere Arbeit verrichtet, während er und auch Bossard sonst relativ weit im klanglichen Hintergrund bleiben, der Basser noch mehr als der Rhodesist. Dann kündigt Irniger auch schon den letzten Song an, aber erneut einen sehr langen und doppelten, zudem mit ungewöhnlicher Positionierung bzw. Konstellation der beiden Bestandteile: „Secret Level“ stellt nämlich den Hidden Track des Ghost Cats-Albums dar, und „Emergency Exit“ ist gar noch völlig unkonserviert. Der Aufbau ähnelt dem schon bekannten, also „Secret Level“ lange vor sich hin wabernd, garniert mit schon einigen ungewöhnlichen Effekten (Irniger etwa bläst auch mal in eine weitgehend leere Wasserflasche, ehe er sie komplett austrinkt), bevor es in „Emergency Exit“ etwas kerniger zur Sache geht. Gisler spielt einige sehr eigentümliche Positionen, und im Mittelteil darf auch Aeby in einem langen Solo sein ganzes Können zeigen, während Stulz abermals völlig jenseitig agiert und Irniger sich das Privileg erlauben kann, minutenlang einfach zu schweigen und seinen Mitstreitern zuzuhören. Die Nummer mündet letztlich in feisten Jazzrock, der rhythmisch beinahe geradlinig daherkommt, bevor ein intensives Outro dranhängt und Irniger ein weiteres Mal zu den Glocken greift. Lauter Applaus belohnt die Schweizer für ihren Set, aber eine Zugabe entlocken läßt sich das Quintett nicht.



Im Gegensatz zu Irniger hat der Rezensent Lars Duppler noch nie mit irgendeiner seiner Formationen live erlebt. Deren aktuelle heißt Unbound (der Rezensent grübelt einen Moment über die kuriose scheinbare Doppelung zu einer im Altenburger Raum beheimateten, allerdings bereits geraume Zeit verblichenen Metalband, ehe ihm einfällt, dass besagte Truppe auf den Namen Untamed hörte) und reduziert die Pilgrim-Besetzung auf ein Trio: Einen Drummer gibt es immer noch, einen Saxophonisten auch, aber der Gitarrist und der Kontrabassist werden wegrationalisiert. Da es ganz ohne einen Baßsound aber dann doch schwierig würde, hat Duppler nicht nur sein Fender Rhodes von 1972 vor sich, sondern zusätzlich noch einen Moog von 1978, und aus letzterem holt er mit der linken Hand die Baßtöne, während die rechte am Fender Rhodes arbeitet. Drummer Jens Düppe trägt übrigens ein Shirt mit der Aufschrift „Keep calm and enjoy the silence“, aber es gibt natürlich keine setlange Aufführung von John Cages „4‘33“, auch wenn Saxer Denis Gäbel im Opener „Kigo“ tatsächlich lange Zeit schweigt und seinen beiden Kollegen das Feld überläßt, wobei Duppler ein ziemlich eigenartiges Riff herausholt, bevor der Saxer schließlich doch noch ins Geschehen eingreift, aber lange Zeit eher eigenständig über dem Teppich der Kollegen schwebt, ehe er im Finale stärker ans restliche Geschehen angebunden wirkt. Im Gegensatz zu Irniger oder Sonja LaBlanca, seiner Instrumentenkollegin von Selvhenter, hat er keine Batterie von Effektgeräten im Einsatz und konzentriert sich auch spieltechnisch auf Althergebrachtes, so dass das Sax hier immer noch so klingt, wie man es von einem solchen gewohnt ist. „Sleepwalker“ fährt lange Zeit einen extrem langsamen Beat – klarer Fall, der Schlafwandler rennt ja nicht durch die Gegend – und ein im besten Sinne mutzliges Piano, ehe es noch zu einer schrittweisen Intensivierung mit allerdings etlichen Breakdowns kommt. „Mindkeeper“ und „The Ransom“ stammen beide aus einem Quartettprojekt, das in nur 24 Stunden eine Platte schreiben und aufnehmen sollte – überhastet klingt das Material freilich trotzdem nicht, auch wenn die relative Eingängigkeit von „Mindkeeper“ schon auffällt, aber durch den witzigen Groove und einige Überraschungsfaktoren wirkungsvoll konterkariert wird. „The Ransom“ wiederum zeigt sich als Ballade, die drumseitig trotzdem einen nervösen Touch atmet, und das keineswegs deshalb, weil Düppe hier außer Besen auch noch alle möglichen und unmöglichen anderen Objekte auf sein Instrument treffen läßt, worunter besonders ein großes raschelndes Stück Stoff fällt, das ganz eigenartige Sounds erzeugt, wenn man mit ihm entlang der Becken wedelt. Auch in „Last Days Of Night“ steht der Drummer mit seiner sehr intensiven Arbeit fast weiter im Zentrum als der Bandchef selbst. Mit dem Setcloser „Twofold“ fahren Duppler, Gäbel und Düppe die Intensität nochmal hoch, wobei der Drummer auch mal in klassisches Uff-Zack verfällt, was er sonst nur sehr selten tut. Ein großes Exzelsior führt in einen coolen Mix aus feistem Midtempo und dräuendem Speed, der ziemlich wild wird und die Grenze zum Jazzrock deutlich überschreitet, obwohl kein Gitarrist da ist, der Riffkrach machen könnte. Im totalen Kontrast endet das Stück mit einem sanften Saxophon-Outro und mit diesem auch der Gig – zwar spendet auch hier das Publikum reichlich Applaus, aber eine Zugabe bleibt erneut aus, und zu einer gemeinsamen Session lassen sich die acht Musiker auch nicht mehr hinreißen. Aber egal – auch das „Normalprogramm“ hat Freude bereitet.

Roland Ludwig


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