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Artikel

Das Echo des Zorns: Das Gewandhausorchester spielt Gubaidulina und Bruckner

Info

Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 02.03.2023

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Manchmal entpuppt sich ein Werktitel als ungewollt programmatisch, so im Fall von „Der Zorn Gottes“ aus der Feder Sofia Gubaidulinas. Für 2017 war ein erster Uraufführungstermin anberaumt, aber der titelgebende Protagonist zeigte sich offensichtlich unzufrieden und ließ die Komponistin langsamer vorankommen als erhofft. Termine anno 2018 und 2019 platzten gleichfalls, und dann kam ein ungeahnter neuer Zornausbruch über die Welt, indem eine Pandemie die kulturellen Möglichkeiten eine Weile stark einschränkte und ein Termin im April 2020 mitten in den ersten von diversen Lockdowns fiel. Im November 2020 konnte dann das Sinfonieorchester des ORF in Wien endlich die Uraufführung spielen – allerdings im Rahmen eines Rundfunkkonzertes ohne Publikum, und auch die erste Aufführung im Gewandhaus fand anno 2021 ohne weitere Anwesende im Saal statt und wurde für eine CD-Produktion festgehalten. Erst im September 2022 spielte das Gewandhausorchester das Werk erstmals vor Live-Publikum, allerdings in Berlin – bis zur ersten publikumswirksamen Aufführung im heimischen Musentempel verging nochmal ein halbes Jahr.
Nun also ist es Anfang März soweit. Auf der Bühne versammelt sich eine riesige Zahl von Musikern und hebt mit finsterem Grollen aus Tiefstreichern und Tiefblech (gleich zwei Tubisten sind im Einsatz) an. Der Zorn fasert dann einerseits aus, wandert aber auch und kommt nun aus den Hochstreichern und dem Hochblech, welchletzteres extrem grell agiert und mit diversen Echowirkungen den Effekt potenziert – der Rezensent sitzt auf einem Platz der rechten Saalempore, auf dem er noch nie gesessen hat, so dass er keine Vergleichsmöglichkeiten hat, aber wie der Klang von links oben scheinbar zurückkommt, verleiht dem Zorn eine vielleicht unbeabsichtigte, aber interessante Potenzierung. Glockenbombast mischt sich ins Geschehen, aber auch einige sinistre Verharrungen, in der Tonsprache teils an Dmitri Schostakowitsch erinnernd, teils deutlich über diesen hinausgehend, ohne freilich in puren Lärm abzudriften. Ob bestimmte Elemente so geplant waren, könnte man natürlich nur mit Partiturstudium entscheiden – aber wenn sich in jenseitiges Triangelgeklimper plus Pikkoloflöte vor dem planmäßigen Hinzutreten von Konzertmeister Frank-Michael Erben und diversen Glöckchen auch noch Hustgeräusche mischen, bekommt der Zorn noch eine ganz andere Dimension, in diesem Fall mit großer Sicherheit ungeplant, aber kurios wirkungsvoll. Das Ausgangsthema kommt jedenfalls mehrfach zurück, die Steigerungen werden freilich wahlweise ultragreller oder ultrabrutaler, und gegen das MG-Feuer aus der kleinen Trommel sind die Streicher selbst im Tutti chancenlos. Die Signaltrompeten werden letztlich so grell, dass sich um den Rezensenten Menschen allen Alters die Ohren zuhalten – aber es gibt keine Steigerung der Zerstörung im Finale mehr, wobei der Zorn freilich auch nicht verraucht, sondern unmotiviert aufhört. Von links hinten erschallt ein Buhruf (sehr selten im Gewandhaus), von den anderen Plätzen aber stabiler Applaus für das Gewandhausorchester und Dirigent Andris Nelsons für die Bewältigung dieser schwierigen Aufführungsaufgabe.

Ob „Der Zorn Gottes“ es ins ständige Repertoire des Gewandhausorchesters schafft, bleibt abzuwarten. Dort fest verankert ist hingegen die 7. Sinfonie E-Dur WAB 107 von Anton Bruckner, die das Orchester anno 1884 mit Dirigent Arthur Nikisch aus der Taufe hob und die erst vor einem reichlichen Jahr, nämlich im Januar 2022 zu den Konzerten anläßlich Nikischs 100. Todestag, zuletzt gespielt worden war. Beide Werke zusammen bilden allerdings auch ein Konzertprogramm bei den Osterfestspielen in Salzburg, die anno 2023 nach 33 Jahren mal wieder vom Gewandhausorchester gestaltet werden, und so nimmt man die Gelegenheit gern wahr, die Kombination zuvor auch nochmal in einem regulären Grossen Concert zu spielen.
Dass Andris Nelsons eine gute Hand für die Gestaltung der Brucknerschen Klangmassen besitzt, ist bekannt – und wer es noch nicht wußte, braucht nur ein paar Sekunden oder allenfalls Minuten, um es an diesem Abend mitzubekommen. Der Lette holt die Musik im eröffnenden Allegro moderato von ganz weit unten, praktisch aus dem Nichts, und seine behutsame Formgeburg, die samtweiche Aura bei sehr langsamem Tempo und die herrlich unaufgeregte Entwicklung, das sind alles Trümpfe, die eine weitere Meisterleistung erhoffen lassen und wo das wacklige Hornthema in den horizontseitigen Hintergrund tritt. Schicht um Schicht legt der Dirigent auf den großen Stapel, auch nach der Schärfung bleibt das Geschehen wogend und natürlich, und wie der Dirigent auch den Cello-Choral aus dem klanglichen Nichts holt, das verrät den Könner. Nur mit den wackligen Blechbläsern hat er an diesem Abend weiter zu kämpfen, mit den Hörnern speziell, aber auch bei den Posaunen klappt nicht alles so wie gedacht. Okay, dann holt er eben den düsteren Paukenwirbel nochmal aus dem Nichts, die Weiterentwicklung geschieht gleichfalls äußerst behutsam, bis der Choral die Befreiung bringt. Der Finalklang geht dann sehr in die Breite – klar, die Überwältigung kommt ja eigentlich erst später.
Das Adagio-Thema braucht etwas Anlaufzeit, um den großen ruhigen Atem zu gewinnen – erst mit dem wallenden Streichereinsatz ist es soweit. Die Brucknersche Anweisung „Sehr feierlich und langsam“ nimmt Nelsons allerdings nicht wörtlich – aber das hat Methode, stellt man später fest, denn auch der Tränentreiber-Charakter des Themas fehlt anfangs noch, prägt sich aber bei jeder Wiederkehr deutlicher aus und läßt sich auch vom bisweilen recht grellen Blech nicht stören. Dafür fällt etwas anderes auf, nämlich die immense Transparenz, mit der Nelsons den Klang des Gewandhausorchesters formt – da hört man auf einmal Fagotte, wo man nie zuvor welche wahrgenommen hat, und das bleibt nicht die einzige Entdeckung. Irgendwann sitzt man bei den Themendurchgängen dann auch mit meterdicker Gänsehaut da wie sonst nur im Adagio der Neunten, Nelsons schraubt den Feierlichkeits-Faktor nach oben, formt um den Becken- und Triangel-Ausbruch trotz wieder mal recht greller Bläser ein stimmiges Ganzes, wobei auch die Wagnertuben im choralen Einsatz kämpfen müssen, um sich in der Färbung durchzusetzen. Die Celli-Pizzikati verschwinden am Ende im Nichts, aber nicht so gründlich, dass man das letzte nicht doch ausfasern hört – okay, sind halt auch nur Menschen, die da spielen.
Im Scherzo nimmt Nelsons abermals eine Relativierung vor: Das Thema kommt klar und energisch von der Bühne, doch ohne den sensenartigen Charakter, den man sonst oft hört, und vor allem nicht „Sehr schnell“, was Bruckner drübergeschrieben hatte – aber an Flüssigkeit mangelt es ihm trotzdem nicht, während das Trio ziemlich breit gelagert kommt und hübsche Kammermusik bietet. Die Reprise nimmt vor allem paukenseitig aber deutlich an Schärfe zu, die Dynamikwahl des Dirigenten ist klar auf das Ziel ausgerichtet, und bei der Massenbehandlung dort macht ihm wie erwartet niemand was vor.
Im Finale geht muntere Kammermusik mit kleinteiliger Tempostruktur voran, ehe Nelsons das Hauptthema aus Stein meißelt und auch die Generalpause eher betont, als über sie hinwegzuspielen, was er später noch verstärkt. Während hier und da mal wieder Bläser wackeln, freut man sich andererseits über einen sehr klangschönen Wagnertuben-Choral – und dann wäre da noch die Bläser-Echo-Wahrnehmung, die analog zu Gubaidulina auch hier, wenngleich in schwächerem Maße, am Platz des Rezensenten aufscheint. Nelsons schichtet die Massen abermals brillant, orgelregisterartig und zugleich transparent aufeinander – aber dann ist Schluß mit lustig, denn der letzte Überwältigungsfaktor, auf den man gehofft hatte, bleibt aus, und es macht sich vielleicht ein bißchen zuviel Routine breit, obwohl zumindest einige Spannung stehenbleibt und der Applaus ebenjenen Überwältigungsfaktor auch nicht reflektiert, obwohl er sich als ausdauernd erweist, bis der Konzertmeister die Versammlung nach dem 3. Vorhang etwas abrupt aufhebt. Eine Auffrischung dieses Werkes unter neuen Soundverhältnissen in Salzburg könnte überraschenden Nutzen stiften.

Roland Ludwig


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