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Malinese trifft Milanesen: Ahmed Ag Kaedy feat. Onom Agemo & The Disco Jumpers und Al Doum & The Faryds im Jenaer Kulturbahnhof

Info

Künstler: Ahmed Ag Kaedy feat. Onom Agemo & The Disco Jumpers, Al Doum & The Faryds

Zeit: 09.07.2022

Ort: Jena, Kulturbahnhof

Fotograf: Konrad Waldmann

Internet:
http://www.kuba-jena.de
http://www.facebook.com/ahmedag.kaedy
http://www.discojumpers.de
http://www.aldoumandthefaryds.tk

Die bereits in präpandemischen Zeiten gestartete Retrogarde-Veranstaltungsreihe hat versucht, auf musikalischer Basis interkulturelle Kontexte verschiedenster Art zu beleuchten, praktisch mit Konzerten, aber auch theoretisch mit Diskussionsrunden und ähnlichen Formaten. Die Betitelung mit dem scheinbaren Oxymoron trifft dabei genau die Situation in so manchem Bereich der heutigen Musikwelt, freilich gleich mehrdeutig: Manche musizieren so retro, dass das schon wieder einem Avantgardismus gleichkommt, andere wiederum erschaffen avantgardistische Klänge ohne den seit der E-Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreiteten Snobismus, der Begriffe wie Harmonie oder gar Melodie als Exponenten längst vergangener Zeiten verdammte, sondern im Gegenteil bewußt die Traditionen aufgreifend, sie aber in neue Kontexte stellend.

Zwei Formationen der letztgenannten Herangehensweise bestreiten an diesem kühl-feuchten Juliabend das letzte Retrogarde-Konzert im Jenaer Kulturbahnhof (für Liebhaber erstgenannter Herangehensweise gibt es im September an gleicher Stelle z.B. Siena Root). Anfangs sieht es dabei so aus, als ob mehr Leute vor der Bühne stünden als bei Al Doum & The Faryds auf selbiger, aber der Raum füllt sich dann doch noch etwas, und so bleibt das Nonett auf der Bühne personell in der Minderzahl – wenn man die Anzahl der Instrumente einrechnet, fällt der Unterschied aber durchaus geringer aus: Der zweite Drummer greift gelegentlich noch zu einem (zweiten) Saxophon, der Keyboarder spielt gelegentlich auch Flöte, und die Frontreihe hat eine ganze Armada an Kleinpercussions vor sich liegen und greift zu selbiger, wenn die Hände gerade mal frei sind, was bei den beiden Sängerinnen recht oft der Fall ist, beim ersten Saxophonisten und beim Klarinettisten etwas seltener und beim Bassisten und Sänger praktisch nie. Die Beschreibung sagt, dass die Band „vor allem Afro- und Modal-Jazz mit Rock und Psychedelia verbindet“, und das stimmt vom Grundsätzlichen her auch, wobei die Milanesen auch noch andere Stilistika einfließen lassen und zudem live in bester Siebziger-Manier anders klingen als auf Konserve, indem so mancher Song durch Improvisationen seine eigentliche Länge deutlich übertrifft. Wenn der Flötist arbeitet, kommen hier und da Erinnerungen an Jethro Tull durch, allerdings ohne deren Rockfaktor – der Gitarrist verzichtet auf kräftigeres Riffing, wie man es von Martin „Lancelot“ Barre ja durchaus häufiger zu hören bekam, aber auch der Folkaspekt, der bei Tull klar nordwesteuropäisch geprägt war, besitzt bei den Milanesen eine andere, südländische Färbung. King Crimson hat der eine oder andere der Musiker vermutlich auch schon mal gehört. Die Vokalistinnen und ihr männlicher Mitstreiter verzichten selbst in den gelegentlichen A-Cappella-Passagen auf klassische Einsatzexaktheit, die Stimmfärbungen gestalten sich ähnlich wie die Musik recht variabel, und trotz der eher beengten Bühne finden nicht nur die Sängerinnen Platz für schlangentanzartige Bewegungen, auch die drei anderen Bewohner der Frontreihe rochieren gelegentlich, musizieren kniend oder dehnen den Aktionsraum aus, indem einer der Bläser mit einem mittelgroßen Gong durchs Publikum läuft.


Die oft urlangen und wie beschrieben mit enormer Instrumentenvielfalt dargebotenen Nummern so abzumischen, dass keiner gar zu weit im klanglichen Abseits steht, das stellt eine gehörige Herausforderung dar, der die fähige Technikabteilung im Kulturbahnhof aber problemlos gewachsen ist. Nicht so gut gelingt die sehr psychedelische Lichtshow, und das liegt an genau einem Scheinwerfer auf der rechten Seite, der in allen Farben eine starke Blendwirkung entfaltet (noch dazu auf einem recht großen Areal, denn sie tritt unabhängig davon ein, ob der Rezensent hinten auf dem vor dem Mischpult befindlichen Sofa sitzt oder vor selbigem steht) und dadurch dem ganzen anderen Lichtset seine Wirkung nimmt. Der größte Teil des Publikums entscheidet sich dafür, sich von diesem Problem mittels Tanzbeinschwingens abzulenken, und im Laufe des Sets nimmt die Tanzbarkeit des Materials tatsächlich zu, nachdem der Anteil für das gemeine mitteleuropäische Tanzbein eher obskur wirkender Rhythmen in den ersten Songs noch relativ hohe Werte angenommen hatte. „Freaky People“, Titelsong des 2021 erschienenen aktuellsten Albums der Formation, entpuppt sich als schnellste Nummer des Sets, durch den appellierenden Chorus auch als eingängigste, obwohl mehrere andere ebenfalls markante, oft durch Vokalisen bestrittene Melodiefragmente verarbeiten. Die erste Ansage kommt erst nach über einem Drittel des Sets, und man merkt dem Bassisten und Sänger zunächst ein wenig an, dass er ob seines etwas holprigen Englisch eher unsicher ist, aber das stört im Publikum niemanden, und so taut er bald auf und wird für seine Verhältnisse fast zur Plaudertasche. Vor dem letzten Song fragt er die Anwesenden, wie lang sie diesen gern hätten, da das einer sei, der mit Improvisationen entsprechend variabel zu gestalten ist, und außerdem ist er noch neu (wenngleich schon drei Jahre in der Entwicklung) und unkonserviert. Ein Spaßvogel im Publikum wünscht sich daraufhin „sixty minutes“, aber ganz so viele werden’s dann doch nicht. Zufrieden sind am Ende aber trotzdem irgendwie fast alle.


Onom Agemo & The Disco Jumpers sind ein Quintett aus Berlin (aus Berlin!), das sich projektweise mit dem Sänger und Gitarristen Ahmed Ag Kaedy zusammentut, der Szenekennern von der Band Amanar de Kidal geläufig sein könnte, wobei es sich in diesem Falle um die Rockszene der Sahelzone handelt, die seit einigen Jahrzehnten ja auch gewisse Aufmerksamkeit in Mitteleuropa gefunden hat. Die Berliner spielen eine Art von Jazzrock, der der üblichen Herangehensweise, 23 Breaks auf kurzer Distanz unterzubringen, diametral entgegengesetzt ist – hier herrscht vielmehr ein konstanter Flow, oft über viele Minuten hinweg, was gemäß dem offiziellen Infoblatt im vorliegenden Fall stilistisch aus der Trance-Musik der marokkanischen Gnawa-Bruderschaften entnommen worden ist. Darüber legt der Malinese Ahmed Ag Kaedy dann noch seinen Gesang und seine Gitarrenparts, ersterer fürs gemeine mitteleuropäische Ohr, das nicht sprachgeschult ist, „arabisch“ klingend und im Mix erstaunlich weit im Hintergrund stehend, aber trotzdem problemlos wahrnehmbar, da auch hier die Abmischung durch eine gute Kombination aus Druck (ohne übergroße Lautstärke!) und Klarheit besticht. Auffällig und eher jazzrockuntypisch ist zudem die Arbeit des Keyboarders, der sehr oft auf spacige Sounds setzt. Zudem sticht er modisch hervor: Er trägt einen Anzug (!) mit obskurem Karomuster, hat den aber offen, so dass man ein weißes Unterhemd sieht – der Gitarrist hingegen trägt einen Anzug mit gleichem Muster, aber verschiedener Farbgebung und geschlossen. Der Malinese steht im traditionellen Gewand (und mit weitgehend stoischer Ruhe) am Mikrofon, während der Saxer, der Bassist und der Drummer normal und unauffällig gekleidet sind. Die beiden letztgenannten sorgen auch für die Satzgesänge, hier im Gegensatz zu den Milanesen strukturell exakt auf den Punkt gebracht. Der Drummer übernimmt zudem die Ansagen und beweist Humor, indem er die justament erschienene CD Tartit (übersetzt „Einheit“) wie folgt anpreist: „Wem’s gefällt, der kauft sich eine. Wem’s nicht gefällt, der kauft eine für die Familie oder für die Feinde.“ Das Material selbiger CD, aus Songs des Malinesen bestehend, die die Band für ihre gemeinsame Besetzung neu arrangiert hat, stellt eines der beiden großen Standbeine des Sets dar, das andere ist ein Fünferblock neuer Songs, der in einer aktuellen, übrigens vom Programm „Neustart Kultur“ geförderten gemeinsamen Songwriting-Arbeitsphase von Ahmed Ag Kaedy und der Band entstanden ist und auf der wie auch diese Fünf-Song-Suite „Common Stars“ betitelten aktuellen Tour zum ersten Mal live vorgestellt wird. Positiverweise findet der eine Störscheinwerfer diesmal keine Anwendung, und das Publikum schwingt zum überwiegenden Teil begeistert das Tanzbein, so dass das Sextett auch noch zur Zugabe „Medin“ überredet wird, die mit ihrem eher gemäßigten Gestus zum Ein-Stück-weit-Herunterkommen gut geeignet ist, obwohl sie seltsamerweise als Opener von Tartit fungiert, an welchselbiger Position man eigentlich etwas Flotteres erwartet hätte. Aber um Erwartungshaltungen erfüllt zu bekommen ist man an diesem Abend ja sowieso nicht da.

Roland Ludwig


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