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Artikel

Klagen, Fragmente und ein Dimensionensprenger: Das MDR-Sinfonieorchester spielt Bernstein, Winbeck und Brahms

Info

Künstler: MDR-Sinfonieorchester

Zeit: 26.09.2021

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Marco Borggreve

Internet:
http://www.mdr-konzerte.de

Seit der Saison 2020/21 ist Dennis Russell Davies Chefdirigent des MDR-Sinfonieorchesters, zunächst für vier Jahre, von denen aber die pandemische Lage das erste gleich mal nahezu komplett verhagelte und außer dem Antrittskonzert kaum weitere praktische Arbeit zuließ. Nun hofft man also allerorten auf eine bessere Lage in der zweiten Saison, und in selbiger leitet der Chef dann auch gleich das erste Konzert der „Zauber der Musik“-Serie im Gewandhaus. So richtig traut das Publikum dem Frieden allerdings nicht oder möchte der 3G-Regel nicht folgen – der Große Saal ist im Rahmen der verringerten Kapazität, die das Hygienekonzept zuläßt, zwar anständig gefüllt, aber durchaus nicht ausverkauft.

Im gängigen Sinfoniekonzertschema steht das Solokonzert im ersten Programmteil und die Sinfonie im zweiten – das ist an diesem Abend invertiert, und das Konzert hebt mit der 1. Sinfonie „Jeremiah“ von Leonard Bernstein an, die allerdings auch aus der althergebrachten Viersätzigkeit ausbricht, mit weit unter einer halben Stunde eine eher übersichtliche Länge besitzt und auch sonst noch so manche Überraschung bereithält. Davies richtet zunächst einige einführende Worte ans Publikum und demonstriert, dass er durchaus keinen Wert auf künstlerische politische Korrektheit legt: Er erzählt, dass er am Vorabend im Opernhaus auf der gegenüberliegenden Seite des Augustusplatzes war, wo „Der Sturz des Antichrist“ von Viktor Ullmann Premiere hatte – und er zeigt sich tief bewegt von diesem Stück und empfiehlt den Anwesenden, es sich selbst anzuschauen und anzuhören, macht also sozusagen Werbung für die Konkurrenz. Es ehrt ihn, dass er den künstlerischen Faktor in diesem Falle über alles andere stellt – und thematisch paßt Ullmann auch zu Bernstein, denn auch dessen 1. Sinfonie stellt das Schicksal der Unterdrückten und Entrechteten am Beispiel des jüdischen Volkes dar. Im 1. Satz, einem Largamente, entwickeln sich hochinteressante Dialoge zwischen den Streicherflächen sowie einzelnen Einwürfen der Bläser und des Schlagwerks, und Davies und das Orchester zeigen schon hier, dass sie in der langen Abstinenz nicht verlernt haben, wie man die Publikumsseele streichelt, was Tiefstreicher und Englischhorn in der Folge nach einem auch schon recht berückenden Tiefblechchoral deutlich machen. Zugleich besticht, wie der Amerikaner Davies den Streichern diesen unerhörten latenten lockeren Groove „einimpft“, den der Amerikaner Bernstein da im Hintergrund zumindest bis zum ersten großen Tutti mitlaufen läßt. Dass die Spannung im ersterbenden Satzschluß durch diverse Erkältete auf der rechten Orchesterempore beeinträchtigt wird, gehört wiederum zu den Erfahrungen, die man gern vermieden hätte und mit der Pandemie eigentlich ausgestorben hoffte.
Nach der „Prophecy“, wie Satz 1 überschrieben ist, folgt die „Profanation“ an Position 2, und zwar als Vivace con brio. Die Anflüge von Lieblichkeit oder auch Fröhlichkeit werden hier schnell niedergemäht, und der Hörer denkt quasi unwillkürlich und nicht selten, dass Dmitri Schostakowitsch das ähnlich gestaltet hätte. Das häufige Unisono-Gesäge besitzt durchaus große Eindringlichkeit, wenngleich der existenzbedrohende Faktor nicht so apokalyptisch über den Hörer hereinbricht, wie man das in der Sowjetunion dargestellt hätte. Dafür besticht Bernstein wieder mal mit originellen Einfällen, etwa dass die Pauken im wilden Getümmel plötzlich mit Jazzbesen gespielt werden, was einen völlig obskuren Eindruck hinterläßt. Der Energietransport in diesem Satz weiß insgesamt durchaus zu überzeugen.
Im dritten Satz „Lamentation“, einem Lento, greift Solenn’ Lavanant Linke ins Geschehen ein – die Klagelieder beschränkt Bernstein nicht auf eine rein instrumentale Wiedergabe, sondern fügt eine Mezzosopranstimme hinzu, die auf Hebräisch Passagen aus den Kapiteln 1, 4 und 5 des besagten Jeremia-Buches singt, anhebend gleich mit „Wie liegt die Stadt so wüst“, das Rudolf Mauersberger wenige Jahre später angesichts des zerstörten Dresden programmatisch vertonte, allerdings auf Deutsch. Die Sängerin kommt vom Opernfach her, und das paßt in diesem Falle auch durchaus gut, wenn sie das tragische Geschehen mit operesker Dramatik darstellt. Zunächst hat sie hauptsächlich über düsteren Streicherflächen zu arbeiten und kann sich dort problemlos Gehör verschaffen. Bisweilen singt sie auch a cappella und vermag diesen Passagen eine besondere Spannung zu injizieren. Auch die Tutti gestaltet Davies transparent genug, dass der Gesang noch da ist, was im dramatischen Höhepunkt des Satzes wichtig ist, zumal auch die anschließende Rückführung zum Frieden gestalterisch problemlos gelingt. Dass Bernstein mehrere Orchesterpassagen mit scheinbarer Schlußfunktion aneinanderreiht, aber das Geschehen immer weiter ausdehnt, um schließlich in einem eher unprätentiösen Schlußakkord zu landen, der allen Erwartungen widerspricht, damit müssen alle Beteiligten klarkommen, und dem durchaus recht enthusiastischen Applaus des Publikums tut das auch keinen Abbruch.


Der Rezensent dürfte nicht der einzige Anwesende gewesen sein, dem der Name Heinz Winbeck zuvor noch nie in einem Konzertprogramm begegnet ist. Der 2019 verstorbene bayrische Komponist besitzt in Davies allerdings einen gewichtigen Fürsprecher, der u.a. alle seine fünf großen Sinfonien aufgeführt und eingespielt hat und nun an diesem Abend „Denk ich an Haydn“ aufs Programm setzt, 1982 komponiert und mit „Drei Fragmente für Orchester“ untertitelt. Fragmentiert wird hier im wesentlichen das berühmte Kaiserquartett, aus dem über diverse Zwischenschritte die deutsche Nationalhymne extrahiert wurde. Das bedeutet, dass etwa im ersten Satz, „Ruhig fließend“ ein langes Themengezerr stattfindet, wobei über einem von den drei Flöten gespielten Orgelpunkt immer wieder einzelne Motiveinsprengsel kommen, mal von einzelnen Instrumenten, mal von ganzen Stimmgruppen, mal mehr und mal weniger verfremdet. Der Klangteppich der Flöten fließt dabei alles andere als ruhig, sondern macht den Hörer eher hochgradig nervös, nicht zuletzt auch, weil man sich fragt, wann die eigentlich mal atmen. Vor einem großen Ausbruch hört der Teppich dann auf, danach wird er von anderen Holzbläsern (Klarinette, Fagott) weitergeknüpft, wobei abseitige Glockenspieleinwürfe hinzutreten und nach einem Gongschlag und zwei einzelnen Holztönen eher unvermittelt Schluß ist.
Fragment 2, „Presto possibile“, nervt den Hörer schon viel eher mit seinem flirrenden Streichergesäge und versucht Originelles zu schaffen, indem die Steigerung aus Richard Strauss’„Also sprach Zarathustra“-Thema auf eine Minute ausgedehnt wird, aber unaufgelöst bleibt. Wenn eine Streicherfläche wie eine riesige Hornisse klingt, trägt das auch nicht gerade zur Beruhigung des Hörers bei, auch wenn der sich über einige witzige Einfälle aus dem Blech oder dem Schlagwerk durchaus freuen kann. Der Hornchoral stellt mit seiner (von einer Tonabweichung abgesehen) vollständigen Ironiefreiheit trotzdem den Höhepunkt des Geschehens dar, die hin und her fliegenden Einsätze verfolgt man eine Zeitlang auch noch mit Interesse, aber die weitere Entwicklung schwankt zwischen spannend und lala, wobei der Schluß hier aus einem einzelnen Harfenton besteht.
„Tempo di Marcia funebre“ steht über dem dritten Fragment, das ähnlich zerklüftet daherkommt wie sein Vorgängersatz, haufenweise Generalpausen auffährt und in seinem Tempo eher anmutet, als würde der Trauerzug besoffen ins Grab fallen. Dabei liefert Winbeck eingangs durchaus kompetentes fieses Gegroll, und auch das quasi aus dem Jenseits zu kommen scheinende Glockenspiel trägt gekonnt zum sinistren Bild bei. Ansonsten animiert der Satz eher dazu, sich selbst ins Grab zu legen: Beglückendes passiert kaum, die permanenten Störeffekte beim Durchexerzieren des Kaiserquartettes nerven schnell, die letzte Zeile wird erst nach einem weiteren Zwischenspiel zerlegt, und die Besenbündel sorgen für die offenbar für notwendig gehaltene Störung des Finales. Im Programmheft wird Winbecks Sinfonieschaffen mit dem von Bruckner und Mahler verglichen. Wenn man sich mal daran erinnert, mit welcher Eleganz und doch Ironie Mahler in seiner 1. Sinfonie „Bruder Jakob“ umgearbeitet hat, und das mit Winbecks Kaiserquartett-Umsetzung vergleicht, so wird die Waage schnell zum Katapult, um mit Olaf Schubert zu sprechen, auch wenn der Applaus an diesem Abend erstaunlicherweise doch nicht sonderlich verwirrt anmutet.

Das Solokonzert gibt es wie erwähnt nach der Pause, aber das 1. Klavierkonzert d- Moll op. 15 von Johannes Brahms gilt in der Literatur wiederum eher als Sinfonie mit obligatem Klavier, zumal der Komponist tatsächlich zunächst eine Sinfonie schreiben wollte, aber davon wieder abkam und Teile des bereits fertigen Materials zu einem Klavierkonzert umfunktionierte, das zwar die althergebrachte Dreisätzigkeit beibehielt, aber für die Mitte des 19. Jahrhunderte eher ungewohnte Dimensionen auffuhr. Schon das urlange Orchestervorspiel vor dem ersten Klaviereinsatz im eröffnenden Maestoso mutet mehr als merkwürdig an. Davies gelingt eine gute Kontrastherausarbeitung zwischen den wogenden und den lieblichen Passagen, dazu eine gekonnte Hinleitung zum Klaviereinsatz – was noch nicht gelingt, ist das Schaffen eines Miteinanders zwischen Klavier und Orchester, die sich geraume Zeit eher im Wege stehen, als miteinander zu arbeiten. An der Balance gibt es zunächst nichts zu deuteln, Elisabeth Leonskajas Spiel läßt sich auch im Tutti gut vernehmen, aber bis kongeniale Zwiegespräche entstehen, vergeht geraume Zeit, und erst der Dialog zwischen Klavier und Tiefstreichern markiert hier einen Wendepunkt zum Guten hin. Dann kann man auch Leonskajas gekonnte Abbildung der Liedhaftigkeit so mancher Klavierpassage genießen, und auch Spannung kommt des öfteren auf, zumal die Hörner nach einem größeren Wackler im Satzbeginn mittlerweile auch zu traumwandlerischer Sicherheit gefunden haben und nur später mal noch kurz wackeln. Leonskaja spielt die aggressiv hämmernden Passagen auch sehr körperbetont, was gelegentliche Balanceprobleme allerdings nicht verhindert, die Davies freilich mit der Routine des alten Fuchses wieder ausbügelt. Die träumerischsten Momente finden wieder im Dialog der Pianistin und der Tiefstreicher statt, in der Hinleitung zum Finale liegt (über mal wieder butterweichen Hörnern) viel Spannung, und den Satzschluß gestaltet Davies (Jahrgang 1944) in einer Art gediegener Monumentalität, die man mit dem Terminus „Altersweisheit“ umschreiben könnte.
Das Adagio nimmt der Dirigent recht zügig und senkt das Tempo erst zum ersten Klaviereinsatz hin. Leonskaja changiert gekonnt zwischen Verträumtheit und Düsternis, hält sich aber von etwaigen religiösen Anwandlungen, wie sie der Komponist selbst im Sinne hatte, fern, wenn man mal von einem gewissen Entrückungsfaktor absieht. Einige geschickt austarierte Tempovariationen im Minimalbereich, hauptsächlich verzögernder Natur, sorgen auch für analytisches Interesse, und die Ausrollung des Schlußteppichs geschieht mit großer Eleganz.
Der dritte Satz, „Rondo. Allegro non troppo“ überschrieben, hängt attacca an und rast flott los, wird aber regelmäßig ausgebremst. Davies legt dazu das passende Dynamikfundament, auch die Transparenz bleibt bis in die meisten Tutti hinein vorbildlich. Nur wird man hier und da das Gefühl nicht los, einige Motive zu sehr in die Breite gezogen zu hören, was das Zusammenwirken von Solistin und Orchester nicht eben einfacher macht. Dass alle Beteiligten aber natürlich ihr Handwerk meisterhaft verstehen, beweisen die gekonnt aus dem Ärmel geschüttelten Tempowechsel, die in einen abermals eher gemäßigt bombastischen Schluß münden. Viel Jubel belohnt Leonskaja, Davies und das MDR-Sinfonieorchester für eine überwiegend starke Interpretation – zu einer Zugabe hinreißen läßt sich die in eine geschmackvolle Schwarz-Türkis-Kombination gekleidete Pianistin aber nicht.

Roland Ludwig


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