····· Kurz nach seinem 80sten Geburtstag ist Maschine erneut auf #4 ····· Osterei - Luxus-Haydn auf Vinyl ····· Zwischen Grunge und Pop suchen Woo Syrah ihren Weg ····· Der zweite Streich von Billy Idol neu und erweitert ····· Die Hamburger Ohrenfeindt sind „Südlich von Mitternacht“ auf der Überholspur ·····  >>> Weitere News <<<  ····· 

Artikel

Keith Emerson mit dem Surfbrett: PoiL und The Atavists im Jenaer Kulturbahnhof

Info

Künstler: PoiL, The Atavists

Zeit: 22.02.2020

Ort: Jena, Kulturbahnhof

Internet:
http://www.kuba-jena.de
http://www.facebook.com/POILband
http://www.facebook.com/atavists

Premiere für ein Experiment im Kulturbahnhof: Gekoppelt werden an einem Abend eine rückwärts- und eine vorwärtsgewandte Band. Erstgenannte trägt ihren archaischen Touch schon im Namen: Unter Atavismus versteht man bekanntlich das „Zurückschlagen“ in bestimmte Elemente vergangener Evolutionsstufen, also wenn der Mensch plötzlich wieder Fell hätte oder sich benimmt wie ein Rindvieh (okay, letztgenannten Aspekt blenden wir lieber schnell wieder aus, denn dann würde die derzeitige Realität von Atavisten nur so wimmeln). Das Schräge an der Konstellation ist nun aber: The Atavists bedienen sich stilistisch tatsächlich ausschließlich in den Sechzigern und Siebzigern mit einem ganz kleinen Griff in die frühen Neunziger – aber sie entwickeln daraus trotzdem etwas Neues. Oder hat schon mal jemand den Stil Surf Stoner Rock gehört? Unter dem firmieren die Tschechen jedenfalls, und er hat auch seine Berechtigung, wenngleich man als dritte Komponente noch einen gewissen Anteil von Psychedelic Rock addieren müßte, zumindest in der Theorie – die Praxis macht das Nachvollziehen hier ein ganz klein wenig schwierig, denn dieser Teil wird speziell vom Keyboarder beigesteuert, und der ist im ansonsten zwar sehr lauten, aber auch klaren Soundgewand lange Zeit kaum zu hören, und erst im hinteren Drittel gelingt es, ihn auch außerhalb von Intros, Breaks oder Halbakustikpassagen deutlich durchhörbar zu machen, wodurch sich die erwähnte Stilerweiterung ergibt. Ansonsten dominiert zwar der Stoner Rock, allerdings spielen ihn die Tschechen nur in einer Lightvariante (obwohl der Drummer überwiegend enorm aggressiv zu Werke geht, was die Spielintensität angeht) und zudem enorm tempovariabel – und dann sind ja da noch die Surfelemente, die einen hohen Tanzbarkeitsfaktor ins Material bringen, vom Schlagzeuger mit klassischen Umdada-Beats untermalt und dem Sänger/Gitarristen Anlaß gebend, kreuz und quer über die Bühne zu hüpfen, wenn er nicht gerade am Mikrofon gebraucht wird oder eines seiner zahllosen Looppedale bedienen muß. Das Schema läuft folgendermaßen ab: Ein Song endet, der Sänger ruft noch in den Schlußton hinein „Thank you very much“ und loopt dann sofort ein Riff für den nächsten Song ein, das auch gleich auf Dauerbetrieb geschaltet wird, so dass der Sänger seine Gitarre nach- oder umstimmen oder aber sie wechseln kann (er hat vier verschiedene dabei, darunter eine klassische, aber nicht weiße, sondern rote Flying V, die prozentual den größten Anteil am Set hat), bevor dann nach etlichen Loopdurchläufen der nächste Song beginnt. Auf das „Thank you very much“-Stichwort beginnt das Publikum seinerseits zu applaudieren, so dass trotz des durchlaufenden Bühnentones keine Unklarheiten entstehen, wann man denn seiner Begeisterung nun Ausdruck verleihen soll, wie das sonst nicht selten der Fall ist. Besagter Sänger/Gitarrist ist nicht nur Bandkopf, sondern auch in der Tat Bühnenmittelpunkt, soliert auch mal knieend, sieht aus wie der kleine Bruder von Yngwie Malmsteen und schwitzt schon nach Song 3 („Dancing Queen“, kein Abba-Cover) fast noch mehr als sein Schlagzeuger. Das Songmaterial ist eher kompakt gehalten, nur selten wird es mal siebzigertypisch durch längere Soli aufgebrochen, am deutlichsten im Setcloser „One Of My Kind“. Das Publikum zeigt sich sehr angetan vom tschechischen Quartett und fordert natürlich eine Zugabe ein, die auch gewährt wird, wobei die lange instrumentale Einleitung noch ein bisher ungehörtes Element bietet, nämlich einen klassischen Dancefloorbeat mit Beckenschlag auf die 2, bevor der Hauptteil dann doch wieder in die gewohnten Gefilde zurückkehrt. Atavismus halt.



Über PoiL Bericht zu erstatten ist ziemlich schwierig. Die Lyoner haben offensichtlich eine ganze Menge Anhänger in Jena, denn schon vor Gigbeginn sammelt sich ein Pulk von Leuten vor der Bühne, was im Kulturbahnhof sonst nur bei ausverkauften Konzerten vorkommt – das ist an diesem Abend nicht der Fall, aber der Füllstand ist trotzdem sehr achtbar, nimmt man die gebotene Musik als Maßstab, deren Massenkompatibilität arg bezweifelt werden darf. Auf der Bühne finden sich ein Baßgitarrist mit Mathematik-Studienrat-Anmutung (und zudem ein wenig wie der späte Gustav Mahler aussehend), ein nicht ganz spindeldürrer, aber von diesem Attribut nicht weit weg befindlicher Schlagzeuger und ein Keyboarder in klassischer Siebziger-Rocker-Optik ein – also eine Besetzung wie bei Emerson Lake & Palmer, nur mit dem Unterschied, dass der Franzose bei seinem Baß bleibt und nicht wie Greg Lake zwischen Baß und Gitarre pendelt (auf der allerersten PoiL-Platte hatte er übrigens noch Kontrabaß gespielt). Dann legen die drei los, und nach den ersten Takten sammeln die mit dem Schaffen des Trios bisher nicht Vertrauten erstmal ihre Kinnladen wieder vom neuen Parkettfußboden ein. Man stelle sich vor, Keith Emerson habe keinen klassischen, sondern einen psychedelischen Background, sodann würden ELP ihr Material einmal vorwärts und einmal rückwärts einspielen und beides dann gleichzeitig darbieten. Heißt praktisch: Wir bekommen eine Art Jazzrock der allerwildesten Sorte geboten, und als man sich schon damit abzufinden beginnt, dass es sich vielleicht um eine Instrumentalband handelt und die Mikrofone vor allen drei Musikern nur zur Tarnung dastehen, beginnt die Formation auch noch dreistimmige Satzgesänge einzubauen, bisweilen gleich ganz a cappella, bisweilen auch über einzelnen Orgelakkorden oder zu wüsten Schlagzeugfiguren, aber gelegentlich auch im vollen Bandsound, was den Schlagzeuger dann vor die Aufgabe stellt, seinen Kopf nicht bewegen zu können und trotzdem irre Rhythmen spielen zu müssen – eine Aufgabe, der sich dieser Polyrhythmiker aber ebenso spielend leicht entledigt wie der Basser derjenigen, für die Bühnenshow sorgen zu müssen, indem er hier und da wie ein Wilder über die Bretter springt, was selbstredend auch keine Auswirkungen auf die Genauigkeit seines Spiels hat. Je länger man zuhört, umso stärker beginnen sich in diesem sehr klar abgemischten, allerdings auch ziemlich lauten Soundorkan bestimmte Themen und Muster herauszukristallisieren, an denen man sich entlangzuhangeln versuchen kann,


wenngleich das Trio gerne mal eine andere Ausfahrt nimmt als die, die man sich gerade vorgestellt hat, was das Zuhören interessant, aber auch enorm anstrengend macht. Es gibt übrigens eine ganze Menge Anwesende, die es irgendwie schaffen, sich aus den vielen, vielen Rhythmusmustern eines herauszupicken und dazu dann das Tanzbein zu schwingen, wobei sich überraschenderweise herausstellt, dass irgendwie doch immer irgendwo ein Viererbeat drunterliegt, nur eben überlagert durch Dutzende und Aberdutzende andere Schichten. In der Gesamtbetrachtung sind PoiL trotzdem immer noch eine der komplexesten Bands, die der Rezensent je gehört hat, und im Direktvergleich wirken da beispielsweise selbst Malstrom (siehe Rezension auf diesen Seiten) wie Modern Talking. Die enorme Leichtigkeit, mit der das Trio zu Werke geht, verblüfft immer wieder, zumal sich die Musiker praktisch auch fast keine Pause gönnen: Nach vielleicht einer halben Stunde scheint dann doch mal ein Song zu Ende zu sein, die Band erprobt ihre Deutschkenntnisse am Publikum, indem sie aufzählt, was sie an diesem Tag zum Frühstück bekommen hat (es war auch Schnaps dabei, was der Keyboarder als Ursache nennt, warum sie so klingen), und der zweite Song dauert nochmal einige Minuten länger und ist zugleich der letzte des Hauptsets – Kenner des Materials können ergründen, ob hier möglicherweise mehrere Einzelnummern zu einer oder zwei großen verschmolzen wurden. Ein Blick auf die Tracklisten der bisher erschienenen vier Alben scheint für diese Theorie zu sprechen, denn der längste Einzelsong dauert in der Studioversion „nur“ eine knappe Viertelstunde. Einige Anwesende zeigen sich von dem Gebotenen überfordert, das Gros aber ist begeistert und fordert selbstredend eine Zugabe ein, die nur knappe zehn Minuten dauert und in der die Franzosen eine Rechtsaußen-Politikerin ihres Landes nicht nur durch den Kakao ziehen, sondern diese gleich ganz in dieser Flüssigkeit, die passenderweise ja auch braun aussieht, versenken. Hier kommt als weitere Lautäußerung neben verballhornten Redesamples auch noch psychotisches Lachen hinzu – zugleich ist diese Nummer in ihrer Strukturierung aber auch ein wenig „normaler“, also nur so komplex, wie das Yes oder eben ELP zu ihren abgedrehtesten Zeiten auch gemacht haben, was böse Zungen mit einem gewissen Augenzwinkern als „kommerziell“ brandmarken könnten. Kurz vor Mitternacht ist der Soundorkan vorüber und nicht nur der Rezensent von dessen Verarbeitung restlos geschafft, aber durchaus nicht unzufrieden. Zu Hause ist zumindest das im Hauptset gespielte Material vermutlich eher zum Vertreiben ungebetenen Besuchs geeignet, aber Mutige können sich ja trotzdem heranwagen, auch wenn in diesem Falle der Optikfaktor als Beeindruckungsoption wegfällt. Aber den haben diese verrückten Lyoner auch nicht zwingend nötig.

Roland Ludwig


Zurück zur Artikelübersicht