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Schalt mich ein und schalt mich aus: Das MDR-Sinfonieorchester spielt Barber, Norman und Walton

Info

Künstler: MDR-Sinfonieorchester, MDR-Rundfunkchor

Zeit: 11.01.2020

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Marco Borggreve

Internet:
http://www.mdr-konzerte.de

„Fokus: Perkussion“ hieß in der vorigen Konzertsaison eine Reihe im Gewandhaus, dem Publikum eine Anzahl neuer und neuester Werke für Schlagzeug und Orchester vorstellend und damit ein positives Echo auslösend, das man bei Repertoire der allerjüngsten Vergangenheit sonst nicht durchgängig, um nicht zu sagen eher selten findet. Die Reihe fand im Rahmen der Konzerte des Gewandhausorchesters statt – das Konzert dieses Abends ist also kein später Nachzügler dieser Reihe, sondern grundsätzlich anders angebunden, nämlich in die Serie „Reihe Eins“ des MDR-Sinfonieorchesters. Nichtsdestotrotz profitiert das Konzert offensichtlich durchaus von der positiven Erinnerung an die eingangs genannte Reihe: Die Zeiten, in denen bei den MDR-Klangkörpern und deren Publikum neueste Musik en vogue war, etwa in der Ära von Herbert Kegel, sind lange vorbei und der heutige Hörer Experimenten nur bedingt zugeneigt – an diesem Abend aber darf der Füllstand des Großen Saales im Gewandhaus als durchaus achtbar bezeichnet werden, nimmt man zum Maßstab, dass alle drei Werke vorab zumindest beim breiten Publikum hierzulande einen Bekanntheitsgrad in der Nähe von Null haben.

Samuel Barbers „Medea’s Dance of Vengeance“ eröffnet den Abend, eine „Drittverwertung“ des Stoffes, den der Komponist 1946 ursprünglich als Ballettmusik geschrieben hatte, woraus er danach eine Orchestersuite zusammenstellte und diese dann wiederum als einsätziges Orchesterwerk eindampfte. Das sehr groß besetzte Orchester eröffnet entrückt und langsam, aber von der Melodik her schräg genug, um die Kinder der kolchischen Zauberin nicht einschlafen zu lassen, trotz der hübschen Kantilenen der Holzbläser. Ein markantes Xylophonmotiv entwickelt sich, die Schrägheit nimmt ab, Tempo und Lautstärke dafür zu, bis wir ein eher breit gezogenes Tutti geboten bekommen, das wieder in grüblerische Passagen mündet – von Tanz ist weit und breit noch nichts zu bemerken. Dirigent Michael Francis versieht auch das zweite Tutti mit enormer Breite, im buchstäblichen Sinne sogar, indem er die Noten von einem rechts neben ihm befindlichen Pult des erst im nächsten Werk zum Einsatz kommenden Schlagzeugsolisten herunterwirft. Aber dann nimmt das Geschehen doch Fahrt auf: Klavierostinati forcieren das Tempo, aus einzelnen Instrumentenattacken wird wildes Kampfgetümmel, das vom Stil her auch Schostakowitsch ähnlich gestaltet haben könnte, ebenso den langen und zähen Zusammenbruch, der nur zum Endkampf hin nochmal Fahrt aufnimmt, als die Rache offenbar vollzogen ist und, wie in der klassischen Tragödie üblich, praktisch alle tot sind. Das trifft auch auf den Applaus zu: Er ist heftig, erstirbt aber schnell.

Andrew Normans „Switch“ betiteltes Konzert für Percussion-Solo und Orchester wurde 2015 in Salt Lake City uraufgeführt, und der Solist war der gleiche, der auch an diesem Abend im Gewandhaus spielt. Zunächst ist Colin Currie (Foto) aber noch gar nicht auf der Bühne, während das Orchester zwischen entrückten Passagen und akustischem Sperrfeuer changiert. Erst während des zweiten Sperrfeuers sprintet der Solist auf die Bühne, zunächst hinter die aus Zuschauersicht rechte seiner beiden reich, aber durchaus unterschiedlich gefüllten Schlagwerkbatterien. Die rechte ist die größere und reichhaltiger bestückte, hinter der auch das Gros des einsätzigen halbstündigen Werkes stattfindet. Klassische Motiventwicklung o.ä. gibt es nicht, statt dessen aber eine Ansammlung interessanter, bisweilen witziger Einzelideen, die den Solisten hier und da quasi in eine Schaltzentrale stellen, wo er mit bestimmten Anschlägen einzelne Instrumente oder Instrumentengruppen ein- und ausschalten, aber auch lauter oder leiser drehen kann, was allerdings (geplant!) nicht in jedem Fall so funktioniert, wie er sich das wünscht. Dialogwirkungen ergeben sich mit den drei Orchesterschlagwerkern, die u.a. knallende Peitschen oder eine total nervtötende Singende Säge zum Einsatz zu bringen haben. Der Zuschauer hat in diesem großen ersten Teil den Vorteil gegenüber dem Zuhörer z.B. am Radio, dass man Currie auch sieht, wie er in seiner Box hamsterartig hin- und herwetzt und mit Mimik und Gestik seine Entdeckung der Ein- und Ausschaltbarkeit unterstreicht, wodurch sich ein zusätzlicher Erlebnisfaktor ergibt. Später wechselt der Solist in seine andere Box, wo er in einem ruhigeren Mittelteil lediglich mit Holzblöcken arbeitet, bevor eine harte Reprise in der ersten Box folgt und schlußendlich eine Coda in der zweiten, diesmal an einer Reihe Gongs und am Metallophon arbeitend, durchaus Spannung aufbauend, immer ätherischer und entrückter werdend und mit nur einem Schlägel wieder schauspielerisch die Suche nach den richtigen Anschlägen untermalend, bis die Singende Säge von hinten wiederkommt, der Solist noch einmal die Gongs streichelt und dann einfach davongeht. Ob die anschließenden, irgendwo von rechts kommenden schnarchenden Geräusche zum Stück gehörten oder nicht, kann der Rezensent nicht sagen, aber abgesehen von ihnen steht die Spannung, und Dirigent, Solist und Orchester werden mit viel Applaus und drei Vorhängen belohnt. Eine Zugabe läßt sich Currie aber nicht entlocken.

In William Waltons Oratorium „Belshazzar’s Feast“ kommt dann auch der MDR-Rundfunkchor zum Einsatz, der sich oben auf der Orgelempore positioniert, während Bariton Christopher Maltman unten neben dem Dirigenten auf der mittlerweile von den Schlagwerkboxen „befreiten“ Bühne Platz findet. Das Oratorium behandelt den bekannten alttestamentarischen Stoff vom Gastmahl des Belsazar, der gewogen und für zu leicht befunden wurde – Material, das u.a. auch schon Händel zur Vertonung angeregt hatte. Waltons Werk stammt aus dem Jahre 1931 und steht in demjenigen „typisch britischen“ Gesangstonfall, der auch beispielsweise in Benjamin Brittens „War Requiem“ vorherrscht. Mit Orgel und zwei zusätzlichen Bläserensembles, die an diesem Abend links und rechts der Orgel, also schräg oberhalb des Chores, angeordnet sind, ist das Werk reichhaltig besetzt und bietet ein breites Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten, die der Komponist auch weidlich ausnutzt, wobei die drei Sätze direkt ineinander übergehen. Die Rollen sind auch im Gesang durchaus unterschiedlich verteilt: Während Maltman bisweilen eine Erzähler-Funktion einnimmt, die dem Evangelisten in den bekannten Bachschen Werken ähnelt, sind andere quasi solistische Rollen auch dem Chor übertragen, etwa gleich zu Beginn, wenn nach der eröffnenden Bläserfanfare die Chorherren als Jesaja deklamieren müssen, was sie auch ausdrucksstark, wenngleich hier und da noch leicht faserig tun. Daß das Orchester in den ersten dramatischeren Passagen den Chor bisweilen zu übertönen trachtet, bekommt der Dirigent balanceseitig bald in den Griff, so dass man auch die zunehmende sängerische Sicherheit bemerkt, die sich schnell ausbreitet – und Maltman agiert sowieso stimmgewaltig und ausdrucksstark. Wie Francis das Orchester durch die hochinteressanten Düsterpassagen (mal fahl, mal richtig finster) hindurchlaviert, das verrät große Kunst und viel Einfühlungsvermögen, und so mancher Chorübergang grenzt an Genialität. Wenn Walton im dritten Satz auf „concubines“ eine plötzliche Verzögerung einbaut, gelingt es den Musikern perfekt, die verächtliche Stimmung zu transportieren, und vor allem ebenjener dritte Satz wimmelt von Steilvorlagen für lautmalerische Elemente, übrigens keineswegs nur aus den Instrumenten: Der Chor ist in seiner dramatischen Erzählkunst samt Deklamationsfähigkeit gleichfalls gefragt, in der Hinleitung zum Finale auch a cappella, was er mit exzellenter Klanggestaltung meistert, trotz leichter Einsatzwackler, die klarmachen, dass auch da Menschen singen und keine Automaten. Besagtes Finale hat eine riesige Struktur aus drei Steigerungsstufen – Walton ist halt ein Engländer mit Sinn für Pomp, und Francis schichtet das Gewünschte an diesem Abend so gekonnt auf, dass der Applaus noch fast in den Schlußton hinein losbricht und lange anhält: Erst nach vier Vorhängen ist Schluß und ein stellenweise enorm beeindruckendes Konzert, das mal wieder beweist, welche Perlen abseits ausgetretener Pfade zu entdecken sind, zu Ende.

Roland Ludwig


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