····· Savatage nach 23 Jahren wieder live auf Europa-Tour ····· Die Bio-Bauern The Inspector Cluzo spielen Öko-Rock ····· Wolvespirit verkaufen Bullshit ····· Rock of Ages - Zusatzshows in 2025 ····· Ally Venable veröffentlicht Video zur neuen Single „Do you cry“ ·····  >>> Weitere News <<<  ····· 

Artikel

Lernen mitten in der Praxis: Das MDR-Sinfonieorchester spielt eine Konzerthälfte lang Seite an Seite mit Musikern des Jugendsinfonieorchesters Leipzig

Info

Künstler: MDR-Sinfonieorchester

Zeit: 05.10.2019

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Internet:
http://www.mdr-konzerte.de

Das MDR-Sinfonieorchester kommt seinem kulturellen Bildungsauftrag außer auf Feldern, wo man es erwarten würde (also z.B. Konzerte in mitteldeutschen Städten wie Suhl zu geben, wo kein eigenständiges großes Sinfonieorchester existiert), auch noch in Arealen nach, an die man vielleicht erst sekundär denkt. Eines davon ist die Mentorenschaft für junge Musiker, und diesbezüglich gibt es Partnerschaften beispielsweise mit dem auf diesen Seiten schon öfter rezensierten Leipziger Universitätsorchester, aber auch mit dem Jugendsinfonieorchester Leipzig, das an die Musikschule der Messestadt angebunden ist. Letzteres tritt im hier rezensierten Konzert in Erscheinung, allerdings erst in dessen zweiter Hälfte.

Die erste Hälfte enthält zwei selten gespielte Werke des 20. Jahrhunderts, zunächst ein viertelstündiges Stück mit dem interessanten Titel „Three Screaming Popes“ von Mark-Anthony Turnage, uraufgeführt anno 1989 in Birmingham und sich auf die Herangehensweise des Malers Francis Bacon (nicht zu verwechseln mit dem Philosophen!) beziehend, der Diego Velázquez’ Bilder von Papst Innozenz X. (siehe Abbildung) verzerrt wiedergab – Turnage nimmt als Verzerrungsgrundstoff spanische Tänze aus der Zeit Velazquez’, verzerrt diese allerdings so stark, dass man wohl Musikwissenschaftler mit Spezialfach spanische Musik sein muß, um mehr als einige offensichtliche Andeutungen zu erkennen. Das Orchester ist sehr groß besetzt und erzeugt zu Beginn einen Anflug von Pseudodramatik, der sich allerdings nirgendwo im Riesenlärm Bahn bricht – das Hin und Her geht nie wirklich nach vorne los. Vier Saxophonisten gehören zur Besetzung und erzeugen bisweilen Geräusche, die an solche erinnern, wenn man einer Katze auf den Schwanz tritt – ob das schon die titelgebenden schreienden Päpste sein sollen, muß offenbleiben. Groovige geradlinige Parts schreiben kann Turnage durchaus, wenn er will, und auch grollende Finsternis darzustellen ist er in der Lage, wie die zwischenzeitlich hereinbrechende Große Trommel beweist, der bösartige Bläserklänge auf dem Fuße folgen. Zudem erreichen viele der Glockenpassagen beeindruckend hohe Werte auf der Nervtötend-Skala – wie Turnage dann aber einen einzelnen Glockenton mitten in die Generalpause im dramatischen Höhepunkt des Werkes setzt, das verrät dann doch wieder Meisterschaft. Nur zeigt er die zu selten, klingt das Werk insgesamt zu sehr nach einem Produkt der Zeit, als man die konsequente Atonalität als Irrweg anzusehen pflegte und einen Ausweg in der Einbeziehung jazziger Klänge in indivers bleibende „klassische“ Strukturen gefunden zu haben glaubte. Wenn die Saxer hier mal einen mehrfachen Themeneinbruch begehen, sehen sie sich freilich einer überraschenden strukturellen Geschlossenheit der anderen Orchestermitglieder gegenüber, die im Werk sonst Seltenheitswert besitzt. Im Schlußgewaber gibt es nicht drei, sondern vier Schreie, und der letzte Metallophonschlag erzeugt einen extrem langen Nachhall, dessen Spannung auch tatsächlich stehenbleibt, bis Dirigent Stefan Asbury die Arme sinken läßt. Von links hinten verschaffen zwei Menschen ihrem Nichtgefallen mit lauten Buhrufen Ausdruck – im Konzertbetrieb im Gegensatz zur Oper eine Seltenheit. Der Gegenapplaus bleibt allerdings mäßig, und das Stück sorgt insgesamt eher für Verwirrung.

Erich Wolfgang Korngold gehörte im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zu den hoffnungsvollen Kompositionstalenten, das schon in jungen Jahren an großen Konzert- und Opernhäusern, auch am Gewandhaus, reüssieren konnte, mit „Die tote Stadt“ einen Opernklassiker schrieb, dann allerdings aufgrund seiner jüdischen Abstammung von den Nationalsozialisten ausgebremst wurde, im US-amerikanischen Exil im wesentlichen Filmmusik schuf und nach dem Krieg seinen Status aus der Zeit bis 1933 nicht wiedererlangen konnte. Daran änderte auch das 1947 durch Jascha Heifetz uraufgeführte Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35 nichts, obwohl oder vielleicht auch weil es für die Themen Korngolds Hollywood-Werk „plündert“.
Von der Struktur her haben wir zwar konzerttypisch drei Sätze vor uns, allerdings zwei langsame und einen schnellen, die auch in dieser Reihenfolge erklingen. „Moderato nobile“ steht über dem ersten, und schon dessen Violinthema besitzt diesen typisch aschkenasischen Melancholiezug, den man direkt nach dem Krieg in Deutschland vielleicht gerade nicht hören wollte, um nicht an die eigene Vergangenheit denken zu müssen. Es entspinnt sich ein munteres Miteinander von Soloviolinist Vadim Gluzman mit einzelnen Mitgliedern des im Vergleich zum Turnage-Stück größenhalbierten Orchesters, immer wieder vorrangig mit der Celesta – die Arbeit bleibt allerdings sehr kleinteilig, größere Klanglandschaften werden nur mal kurz angedeutet. Korngolds Fähigkeiten in der Dramatisierung und Gluzmans spieltechnisches Können werden in der „Vollbremsung“ im kadenzartigen Part deutlich, Orchesterdramatik beginnt sich aber erst mit den ersten Schlagzeugeinwürfen zu entfalten, und bevor dieser Prozeß richtig abgeschlossen ist, ist der Satz auch schon zu Ende.
Der lyrische Grundton ändert sich auch im „Romance“ genannten zweiten Satz nicht, der einen gewissen Beigeschmack bekommt, wenn man weiß, dass Alma Mahler-Werfel die Widmungsträgerin des Konzertes ist. Das ändert freilich nichts an der anfänglichen Entspanntheit, trotz einiger Kabinettstückchen, die Gluzman vorzuführen hat. Den Dramatisierungen in diesem Satz hört man Korngolds Filmmusikvergangenheit enorm deutlich an, ein romantischer Ton ist auch nicht von der Hand zu weisen, Asbury nimmt den Satz zwar bedächtig, aber durchaus nicht zu langsam, und der Satzschluß ist abermals hollywoodkompatibel.
Das Finale hängt nicht attacca an, wie das bei Solokonzerten sonst öfter vorkommt, aber es erfüllt seine anfängliche „Hallo wach“-Funktion trotzdem. Es entwickelt sich ein lockerer Mix aus folkloristischen Anklängen in hoher Geschwindigkeit und einigen dräuenden Verharrungen, in denen man immer das Gefühl hat, die Musiker wollten sofort wieder losflitzen. Asbury leitet das gekonnte Hin und Her mit leichter Hand, die Hörner schleppen zwischenzeitlich mal, kommen aber im großen Kinobombast wie alle auf den Punkt. Einige Verharrungen wirken etwas eigentümlich, werden von Asbury aber gekonnt organisch eingebunden, und der Dirigent schafft es zugleich, den flott-spritzigen Schluß nicht aus dem Gleis rutschen zu lassen. Da grüßt Hollywood wieder, wie überhaupt das ganze Stück verdeutlichen könnte, wie es ist, wenn ein Filmkomponist „ernste“ Musik zu schreiben versucht, wüßte man nicht um Korngolds Biographie (bei Turnage wäre es dann anders herum – ein „Klassikkomponist“ versucht Jazz zu schreiben). Ein Bravo kommt gleich, die Vorhänge fallen überraschend kurz aus, und Gluzman bedankt sich noch mit einer enorm weit zurückgenommenen Sarabande aus einer Bach-Partita, die immer entrückter wird, so dass nicht mal ein Huster die Stimmung stören kann.

In Peter Tschaikowskis Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36 kommen nun die jungen Musiker des Jugendsinfonieorchesters Leipzig hinzu, und zwar meist so, dass an einem Notenpult ein Jugendlicher und ein MDR-Musiker sitzen, so dass die Jugendlichen, die übrigens einheitlich lindgrüne Krawatten tragen, quasi mitten in der Praxis lernen. Im Andante sostenuto fällt zunächst das extrem durchdringende Blech auf, und das markante Hornmotiv ist natürlich primär heikel, wenn man unerfahrene Musiker dabei hat – aber etwaige Bedenken sind an diesem Abend unnötig: Das Motiv sitzt. Asbury wählt eine eher gediegene Herangehensweise mit bedächtigen Entwicklungen, kann allerdings nicht verhindern, dass die Hörner irgendwann mal eher losgelöst von den Streichern zu arbeiten beginnen. Dafür gelingen die seelenstreichelnden Teile mit Vogelrufen über einer akustischen Blumenwiese einfach nur schön, auch am später zu transportierenden Energiegehalt mangelt es nicht, und in der Hinführung zur Themawiederkehr finden sogar Hörner und Streicher wieder zu gemeinsamer Sprache. Den Kampf zwischen Energie und Transparenz gewinnt lange Zeit die Energie, aber in Richtung des Satzschlusses bekommt Asbury auch wieder mehr Transparenz hin und hält zudem die Spannung hoch.
Im Andantino in modo di canzona agiert die Oboe sehr lieblich, die Themenübernahme durch das Orchester kratzt die Schmalzgrenze an, überschreitet sie aber nicht, und die Tiefstreicher entfalten in der Folge einiges an Druck, sogar relativ triumphale Momente bleiben nicht aus, und Asbury kann einen lockeren Groove erzeugen, wenn es nötig ist. Das Ganze bildet eher einen romantischen als einen trübsinnigen Satz, auch von der Erschöpfung, die Tschaikowski in seinem Programm selbst umrissen hat, ist an diesem Abend nichts, aber auch gar nichts zu spüren – statt dessen gestaltet der Dirigent auch den Schluß wieder mit großer Lieblichkeit, die er mit einem angemessenen Spannungsfaktor garniert.
Die Pizzikati im Scherzo in einer derartig halsbrecherischen Geschwindigkeit zu nehmen, wie Asbury das tut, kann man mit einem Profiorchester machen, aber mit einer uneingespielten halb jugendlichen Besetzung grenzt das an Selbstmord. Der Dirigent bleibt freilich am Leben und die Hälse ganz – es gibt kein ausfaserndes Durcheinander, sondern gekonnte Schärfe, was den Beteiligten ein enorm gutes Zeugnis ausstellt. Die Holzbläser läßt Asbury gekonnt zwischen lieblichem und frechem Ausdruck pendeln, das Blech wirkt sehr geschlossen, und jawohl, Pizzikati kann man auch bis an die untere Hörbarkeitsgrenze führen. Nur das kollektive Umblättern am Satzende erzeugt ein derart lautes Geräusch, dass der Schlußeffekt ungünstig überlagert wird.
Das Allegro-con-fuoco-Finale hängt nahezu attacca an. Asbury läßt schon zu Beginn einen hohen Dynamikgipfel erklimmen, bekommt das Thema des russischen Volksliedes „Stand ein Birkenbaum“ (das hat der Rezensent vor mehr als 30 Jahren mal in der Schule gelernt) aber zunächst nicht mit der wünschenswerten Schärfe hin – das ändert sich erst im Verlauf des Satzes. Das Tempo hält Asbury hoch, wird mit gekonntem Streichergesäge versorgt und nimmt auch den walzerartigen Teil enorm zügig. Düsternis gibt es hier nur kurz nach der Wiederkehr des Schicksalsmotivs aus dem ersten Satz, die Tiefstreicher überzeugen, und die große Steigerung gelingt lehrbuchreif. Asbury fordert viel Energie im Schlußteil, eine Steigerung ist dann allerdings nicht mehr durch Lautstärke, sondern nur noch durch Tempo möglich, wobei das Risiko, sowas mit der erwähnten Besetzung zu spielen, abermals belohnt wird. Die Jugendlichen bekommen somit verdientermaßen einen Extraapplaus und auch Extrablumen, aber auch der „normale“ Applaus fällt für ein nicht mal halbvolles Gewandhaus sehr laut und ausdauernd aus. Wenn das Gehörte der Maßstab für den Orchesternachwuchs ist, braucht einem diesbezüglich erstmal nicht bange zu sein.

Roland Ludwig


Zurück zur Artikelübersicht