····· Osterei - Luxus-Haydn auf Vinyl ····· Zwischen Grunge und Pop suchen Woo Syrah ihren Weg ····· Der zweite Streich von Billy Idol neu und erweitert ····· Die Hamburger Ohrenfeindt sind „Südlich von Mitternacht“ auf der Überholspur ····· BAP gehen auf Zeitreise in ihre besten Jahre ·····  >>> Weitere News <<<  ····· 

Artikel

Aus dem urbanen Hamburger Wald nach Jena: Das NuHussel Orchestra im Kulturbahnhof

Info

Künstler: NuHussel Orchestra

Zeit: 09.11.2019

Ort: Jena, Kulturbahnhof

Fotograf: Sascha Niethammer (Bandfoto), Steff Aperdannier (Einzelfoto)

Internet:
http://www.kuba-jena.de
http://www.nuhusselorchestra.com

30 Jahre ist es an jenem Tag her, dass der antifaschistische Schutzwall, ähem, die Grenze zwischen der DDR und der BRD einen ersten Riß zeigte, und das liefert den Anlaß für eine große Menge an Veranstaltungen allerorten. Ohne besagtes Ereignis hätte es auch das hier rezensierte Konzert nicht oder zumindest nicht in dieser Ausprägung gegeben: Zum einen würde in der 70jährigen DDR des Jahres 2019 der alte Saalbahnhof möglicherweise immer noch in seiner ursprünglichen Funktion, aber nicht als Kulturstätte genutzt, zweitens gäbe es den Betreiberverein zumindest in jener Rechtsform nicht, und drittens wäre die Wahrscheinlichkeit, dass das NuHussel Orchestra in Jena spielt, eher gering, denn schließlich stammt die Band aus Hamburg, und das liegt aus DDR-Sicht bekanntlich im NSW, also im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, aus dem man nicht mal eben nach drüben fahren und Konzerte geben konnte. Wir haben an diesem Abend somit ein lebendiges Beispiel vor Augen, wie privilegiert wir in der nicht grenzenlosen, aber doch grenzenarmen mitteleuropäischen Gesellschaft von heute leben – und die beiden netten Hamburger Mädels, mit denen der Rezensent vor dem Gig plauscht, wären ohne den Mauerfall wahrscheinlich auch nicht dagewesen.
„Grenzenarm“ ist auch ein gutes Stichwort für das, was uns das NuHussel Orchestra in etwas über 100 Minuten Spielzeit an diesem Abend serviert. Der Infotext sagt, die Band manövriere „geschickt durch alles, was moderner Jazz zu bieten hat; beeinflusst von Funk, Hip Hop, Klassik bis Rock oder Electro“, und das Ergebnis sei „der neue City-Sound einer weltoffenen Generation: Urban Score“. Da bietet sich als Stilumschreibung natürlich NuJazz an, wie auch der Bandname schon mit dem Zaunpfahl winkt. Besagte Einflüsse sind natürlich gewissen Intensitätsschwankungen unterworfen, je nachdem, wer gerade als Gastmusiker dabei ist. Das neue, insgesamt zweite Album The Forest, während einer fünftägigen Session in einem mit einer Waldkulisse ausstaffierten Theater eingespielt, sieht insgesamt 38 Musiker am Werk, also eine ganze Kohorte Gäste – in Jena spielt hingegen die siebenköpfige Stammband, und in der ist beispielsweise niemand für HipHop-Elemente zuständig, so dass dieser Einfluß also eher marginal bleibt, was zumindest den Rezensenten durchaus nicht stört. Und „grenzenarm“ heißt durchaus nicht „grenzenlos“: Zwar würde man einem Eklektizismusfan wie Drummer/Chefdenker Wanja Hasselmann durchaus auch zutrauen, Grindcoregepolter oder volkstümlichen Schlager einfließen zu lassen, aber er weiß vermutlich, warum das eher keine guten Ideen wären, Offenheit hin oder her ...
Der Terminus „siebenköpfige Stammband“ (siehe Foto) ist an diesem Abend allerdings auch etwas gewagt, denn zum Bandstamm gehören von dem in Jena auf der Bühne stehenden Septett eigentlich nur fünf. Saxer Konstantin Herleinsberger und Keyboarder Christoph Spangenberg sind lediglich für einen einzigen bzw. für zwei Gigs eingesprungen und haben vorher keine einzige Probe mit dem Rest der Band absolviert, erfährt das staunende Publikum von Wanja irgendwann im Verlauf des Sets. Wenn man sich die obigen Stilbeschreibungen nochmal auf der Zunge zergehen läßt und ins Kalkül zieht, dass die Musik des NuHussel Orchestra vor Komplexität, Taktwechseln und ähnlichen Stolperfallen nur so strotzt, wird schnell klar, dass eine Aufgabe, die schon bei deutlich geradliniger und ausrechenbarer musizierenden Combos durchaus eine große Herausforderung darstellen würde, hier quasi übermenschliche Fähigkeiten als Musiker erfordert. Und die haben die beiden offensichtlich: Sie kleben keineswegs sklavisch an den Noten, die vor ihren Augen in gedruckter oder in Tabletform erscheinen, aber haben die Vorlagen trotzdem so weit intus, dass man als Außenstehender, der mit dem Studiomaterial nicht vertraut ist, nur äußerst selten mal auf die Idee kommt, dass hier keine seit Ewigkeiten eingespielte Besetzung auf der Bühne steht. Klar, hier und da geht mal was schief, etwa wenn gleich im Intro Trompeter und Saxer etwas zu asynchron agieren oder wenn am Ende der zweiten Zugabe der Keyboarder den Schlußakkord schon lange vor dem letzten großen Schlagzeugwirbel beendet. Aber das nimmt man mit einem Lächeln zur Kenntnis, und es schmälert die große, nein, riesengroße Leistung dieser beiden Musiker keineswegs. Die fünf „Stammkräfte“ versuchen es ihnen aber natürlich auch nicht zu schwer zu machen, und trotz aller Komplexität wohnt den meisten der Kompositionen doch eine gewisse Grundlogik inne, wenngleich Überraschungen durchaus nicht ausgeschlossen sind: Freut man sich in „Orange Sand“ nach ziemlich langer Komplexität über einen plötzlich hereinbrechenden geradlinigen Vierviertelbeat, der zum Tanzbeinschwingen förmlich einlädt, so ist ein paar Sekunden später der Song plötzlich zu Ende. Interessanterweise beginnen NuHussel Orchestra nach einer ausgedehnten, über weite Strecken ruhig und besonnen Dynamik aufbauenden „Overture“ mit „Orange Sand“ durchschnittlich eher flott, bevor sie das Tempo markant rausnehmen, was zwar gelegentliche Speedpassagen wie das furiose Finale von „Invader“ nicht ausschließt, aber am anderen Ende auch bis ins Areal des Doomjazz reicht, freilich ohne dessen Abgründigkeit oder Finsternis (und ohne Humoristik – der Terminus war ja mal eine reine Spaßerfindung von Vicki Vomit, bevor Jahre später diverse Bands tatsächlich so zu spielen begannen). Erst der Setcloser „Jamboree“ erhöht die Schlagzahl wieder deutlich, wobei auch in den dazwischenliegenden Songs meist genug Dynamik übrigbleibt, um das Tanzbein zu bewegen, sofern man denn einen passenden Rhythmus dafür findet.


Selbst einige der Soloeinlagen wie Wanjas Drumsolo kann man problemlos durchtanzen, während etliche Zwischenspiele ambientartig dann doch die komplette Dynamik auf Null setzen und neben dem Erholungseffekt fürs Tanzbein auch interessante Klangflächen- und Effektentdeckungen ermöglichen. Da sind dann neben flackernden Gitarren und wellenartigen Keyboards auch spaceartige Sounds am Start, die der Basser aus einem kleinen Korg-Synthie holt, übrigens auch gelegentlich in den Hauptteilen der Songs. Merkfähige Melodien bleiben dabei eher selten, aber das ist kein Manko: Bestimmte Motive besitzen durchaus Wiedererkennungswert, und das genügt an diesem Abend durchaus. Gesang gibt es übrigens keinen, und irgendwie vermißt man ihn zumindest als Unkundiger auch nicht.
Wer mitgezählt hat, kommt darauf, dass über einen Musiker noch gar nichts geschrieben wurde. Dieser Mann sitzt halblinks hinten und ist ein Percussionist. Links vor ihm thront allerdings Wanja an einem sehr gut bestückten Drumkit, und wer BigBand-Konzerte gewohnt ist, der weiß, dass in 99 von 100 Fällen ein zusätzlicher Percussionist nur in seltenen solistischen Einlagen zu hören ist und man ihn ansonsten zwar spielen sieht, aber nicht hört. Der Abend in Jena trägt in dieser Analyse die Ordnungszahl 100: Kulturbahnhof-Stammtechniker Thomas meistert die Herausforderung, hier wirklich alle der vielen Instrumente durchhörbar zu gestalten und auch dem Percussionisten angemessenen Audio-Spielraum zu verschaffen. Dass sich die Instrumente manchmal akustisch im Wege stehen und irgendeins gelegentlich eines der Drumfelle zur Eigenschwingung anregt – geschenkt: Das, was da aus den Boxen kommt, überzeugt nahezu ohne Abstriche und trägt nicht unmaßgeblich zum positiven Faktor bei, der diesem Abend innewohnt. Zwar ist das Publikum nicht eben in großer Zahl da, aber die Anwesenden zeigen sich in prima Laune, klatschen auch ungewohntere Rhythmen relativ timingsicher mit und schwingen fleißig das Tanzbein, wenngleich nicht in extrem hoher Frenetizität – dazu ist die Musik des NuHussel Orchestra unterm Strich dann doch zu komplex. Aber ohne Zugaben kommen die Hamburger bzw. St. Paulianer nach dem intensiven „Jamboree“ nicht davon und packen zunächst mit „Home“ eine enorm stimmungsvolle Ballade aus, bevor „Give It Up“ nochmal fett vom Leder zieht und den gekonnten Schlußstrich unter ein hochinteressantes Konzert setzt.


Setlist NuHussel Orchestra:
1) Overture & Orange Sand
2) Phoenix
3) The Forest
4) Shiny
(Solo Keys)
5) Invader
6) Suspire
(Solo Drums/Perc)
7) Vortex (+ Live-Intro)
(Solo Bass/Git)
8) Jamboree
--
9) Home
10) Give It Up

Roland Ludwig


Zurück zur Artikelübersicht