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Artikel

Ein Hit und eine unbequeme Entdeckung: Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera spielt Tschaikowski und Weinberg

Info

Künstler: Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera

Zeit: 18.01.2019

Ort: Altenburg, Landestheater

Internet:
http://www.tpthueringen.de
http://www.weinbergsociety.com

Im heutigen Konzertbetrieb hat sich eingebürgert, beim typischen Aufeinandertreffen eines Solokonzerts und einer Sinfonie letztere im zweiten Konzertteil zu spielen – das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera aber kehrt in seinem 4. Philharmonischen Konzert der Saison 2018/19 die Reihenfolge um. Möglicherweise hatte Dramaturg Felix Eckerle eine Episode im Hinterkopf, als das Gewandhausorchester anno 1976 mit einem Sinfoniezyklus von Dmitri Schostakowitsch begann und das aus den Sinfonieerstlingen von Beethoven und Schostakowitsch sowie dem Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester des letzteren bestehende Programm wie üblich an zwei aufeinanderfolgenden Konzertabenden darbot – am zweiten Abend wurde aber plötzlich die 1. Sinfonie Schostakowitschs, ein genialer, aber durchaus nicht ganz leicht verdaulicher Wirbelwind, nicht als letztes, sondern als erstes Werk gespielt: Scharen von Konzertbesuchern hatten am ersten Abend die Auseinandersetzung mit der hierzulande weitestgehend unbekannten Sinfonie gescheut und waren in der Konzertpause nach dem schon relativ fordernden Schostakowitsch-Doppelkonzert kurzerhand abgerückt. Eine analoge Gefahr bestünde nun auch an diesem Abend, der mit einem Hit und einer unbequemen Entdeckung aufwartet: Der Hit wird folglich kurzerhand nach hinten gesetzt, damit das Publikum nach ihm nicht entfleucht und die unbequeme Entdeckung sausen läßt.

Die besagte unbequeme Entdeckung besitzt sogar einen direkten Bezug zu Schostakowitsch: Mieczyslaw Weinberg empfing direkte kompositorische Impulse von Schostakowitsch, war umgekehrt aber auch diesem ein wichtiger Ratgeber. Nachdem Schostakowitsch mit seiner 13. Sinfonie, die unter dem Titel Babi Jar den Fokus auf in der Sowjetunion um 1960 eher verdrängte jüdische Thematiken lenkte, für ebenjene Thematiken eine Tür geöffnet hatte – auch dieses Werk ist in Altenburg und Gera vor noch nicht allzulanger Zeit erklungen, nämlich im September 2017, und das Konzert ist auf diesen Seiten rezensiert –, nutzte Weinberg, selbst jüdischer Abstammung und einziger Holocaust-Überlebender seiner Familie, die Gelegenheit, um in seiner 6. Sinfonie a-Moll op. 79 sich ebenfalls solchen Thematiken zu widmen. Das unbequeme Werk fand nach seiner Uraufführung 1963 unmittelbar viel Interesse, und der Uraufführungsdirigent Kirill Kondraschin spielte es mit dem Moskauer Staatlichen Sinfonieorchester und dem Knabenchor der Moskauer Singschule auch zeitnah für eine LP ein, die 1966 beim Staatslabel Melodia erschien (siehe Coverabbildung). Der Name des Komponisten lautet dort Moisei Vainberg, und man findet bis heute in der Literatur die unterschiedlichsten Varianten, Schreibweisen und Transkriptionen. Im Gegensatz zu Schostakowitsch, dessen 15 Sinfonien es zumindest teilweise in den sowieso nicht reichlich bestückten Kanon der großen Sinfonien des 20. Jahrhunderts schafften, konnten sich Weinbergs 22 Sinfonien dort nicht verankern, und auch sein sonstiges Schaffen geriet in Vergessenheit, so dass die Ausgrabung der Oper „Die Passagierin“ vor etlichen Jahren in Bregenz als Pioniertat gefeiert werden konnte – ebenjenes Werk wird es übrigens in dieser Spielzeit auch in Gera zu sehen geben. Mittlerweile existiert auch eine Internationale Weinberg-Gesellschaft, die sich die Wiederentdeckung und Pflege von dessen umfangreichem und vielschichtigem Werk zum Ziel gesetzt hat.
Komme nun aber niemand und vermute angesichts des bisher Gelesenen, Weinberg sei nicht mehr als ein Schostakowitsch-Epigone! Klar, wer den einen grundsätzlich mag, wird auch mit dem anderen klarkommen, zumal sich beide in der Tonsprache allenfalls gemäßigt modern verhalten und sich von all den zwischenzeitlich für modern gehaltenen Trends der westlichen E-Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fernhalten, was, wie so mancher Leser schmunzelnd eingestehen wird, auch gut so ist. Selbst Weinbergs Sechste ist trotz ähnlichen Sujets kein Epigonenwerk von Schostakowitschs Dreizehnter, obwohl es sich sogar in beiden Fällen um Chorsinfonien handelt. Aber Weinberg verzichtet fast komplett auf einen Gesangssolisten, setzt den Chor nur in drei der fünf Sätze ein und wählt zudem keinen Männer-, sondern einen Kinderchor, der die Gedichte zweier jüdisch-sowjetischer Poeten aus dem 1948 von Stalin verbotenen Jüdisch-Antifaschistischen Komitee (und eines dritten, in diesem Falle eher linientreuen sowjetischen Dichters) vorträgt. Im Falle der Aufführung in Altenburg und denjenigen an den beiden vorgelagerten Abenden in Gera übernimmt diese Rolle der in letztgenannter Stadt beheimatete und von Christian Klaus Frank einstudierte Konzertchor Rutheneum, der in Altenburg seinen Platz auf der Bühne ganz hinten, also hinter dem recht voluminös besetzten Orchester, findet.
Das Adagio sostenuto an erster Satzposition sieht die Hörner im einleitenden Thema schon an der Ideallinie kratzen, und ebenso wie dieses sind auch die fahlen Streicher durchaus Schostakowitsch-kompatibel und helfen dem mit Weinbergs Schaffen nicht vertrauten Hörer zumindest bei der grundsätzlichen Orientierung. Dirigent Laurent Wagner gestaltet die äußerst bedächtige Entwicklung sehr geschickt, überspielt die minimalen Variationen im Grundbeat nicht, überbetont sie aber auch nicht. Eine große Apokalypse bleibt in diesem rein instrumental gehaltenen Satz aus, die Grundfärbung wird durch die fahlen Streicher bestimmt, die auch als wichtiges Gliederungselement fungieren. Wenn Weinberg dann das Tempo noch weiter runterfährt, die Flöten über einem Tiefstreicherteppich zaubern und die Hörner anschließend das Gleiche tun läßt, wobei diese im mehrfachen Pianissimo verklingen, dann hat das nicht nur Hand und Fuß, sondern auch Seele. Einen Tuttiausbruch setzt der Komponist letztlich doch noch, aber die abermals Schostakowitsch-kompatible leicht schräge Finsternis nimmt Wagner allenfalls im Forte und raubt ihr damit den Niederschmetter-Aspekt, wohl planmäßig, denn der schräg-düstere Satzausklang wirkt durchaus logisch.
Der Kinderchor, im vorliegenden Falle besser als Jugendchor zu titulieren, greift im zweiten Satz, einem Allegretto, ins Geschehen ein, allerdings auch erst nach einer schrittweisen Entwicklung von Lebendigkeit nach einem weit zurückgenommenen Satzbeginn, der attacca am ersten Satz hing. Im Programmheft abgedruckt sind die deutschen Übersetzungen der Texte, gesungen wird aber das russische Original, in diesem Satz „Das Geiglein“ von Lew Kwitko, das Schicksal einer alle Kreaturen erfreuenden Geige beschreibend. Da von den Kreaturen etliche vorkommen, nämlich Hühner verschiedener Altersstufen, Sperlinge, ein Kater und ein Pferd, nutzt der Komponist das für einige lautmalerische Effekte, was der Chor natürlich mit besonderer Freude darbietet, wobei die Stimmung aber durchaus wechselt: Selbst das pralle Leben bleibt immer mit einem Schuß Nachdenklichkeit behaftet, und es nimmt kein gutes Ende mit dem Geiglein. Wagner wiederum schafft es, den Chor auch über das Orchester hinweg zumindest über weite Strecken gut hörbar darzustellen, und der Konzertmeister darf sich mit seinem nicht ganz so kleinen Geiglein auch noch austoben.
Das Allegro molto in der Mitte der Sinfonie bleibt wieder instrumental. Hier erleben wir etwas völlig anderes als das bisher Gehörte, nämlich wildes jiddisches Getobe auf Offbeats, das mit anderer Instrumentierung auch in Kaminers Russendisko hätte laufen können. Hier wimmelt es vor blitzartigen Wendungen, das Tempo liegt weit oben, das Tanzbein beginnt unwillkürlich zu zucken, selbst der etwas verschleppte Teil entwickelt unter Wagners kundiger Stabführung einen unwiderstehlichen Vorwärtsdrang, der nächste Speedpart baut gar noch Glocken ein – aber die Ausgelassenheit nimmt abermals kein gutes Ende: Der Bedrohungsfaktor wächst und führt zu einem furiosen, aber ambivalenten Satzfinale. Sollte jemand immer noch nicht vom Nicht-Epigonentum Weinbergs überzeugt gewesen sein: DAS hätte Schostakowitsch nie geschrieben.
Ein Largo bildet den vierten Satz und hebt gleich mit einer großen Katastrophe an – passend dazu gibt es in diesem Satz den Text „In rotem Lehm ist ein Graben ausgehoben“ von Shmuel Halkin, der sich direkt mit der Erschießung der Kiewer Juden in Babi Jar 1941 auseinandersetzt. In der noch instrumental gehaltenen Einleitung gerät die Streicherfläche so dicht, dass selbst die Trompete kaum durchkommt, bevor ein brillant komponierter wie gespielter Totalzusammenbruch folgt. Der Chor agiert hier über einem finsteren Tiefstreicherteppich, bevor die Katastrophe in verschiedenen Ausprägungen wiederkehrt, unterbrochen jeweils durch dynamisch höchst interessant gestaltete Passagen der scheinbaren Entspannung. Aus dem Chor tritt eine Solistin mit großer Intensität nach vorn, und letztlich endet der Satz nicht in einer Katastrophe, sondern in einem fahlen Nichts.
Etwas überraschend entwickelt sich daraus im letzten Satz ein friedliches Bild über den Text „Schlaft, Menschen“ von Michail Lukonin, und damit ist keine bittere Ironie bezüglich der Toten von Babi Jar gemeint, sondern es handelt sich tatsächlich um ein Schlaflied, auch wenn das sowjetisch-linientreue Schlaflied natürlich irgendwo den Bogen zum Weltfrieden bekommen muß (und der Textübersetzer schrägerweise wörtlich Weitstreckenraketen statt des eingeführten deutschen Begriffs Langstreckenraketen übersetzt). Mit dieser Wahl nimmt Weinberg einerseits seinen Gegnern und Kritikern einigen Wind aus den Segeln, aber andererseits ist er intelligent genug, zumindest einen latenten Sarkasmus einzubauen. Die Lieblichkeit des Schlafes braucht somit geraume Zeit, um sich in dem attacca am vierten hängenden Satz zu entwickeln, und der Schlaf des Protagonisten erscheint alles andere als ruhig und ungestört, sondern der Schlafende wälzt sich gedankenschwer von links nach rechts, wozu die etwas schrägen Düsterklänge bestens passen. Der Chor franst hier ein-, zweimal etwas zu stark aus, vollbringt aber insgesamt gesehen abermals eine sehr starke Leistung, der Konzertmeister darf nochmal richtig vorlaut agieren und damit Ironie symbolisieren, bevor das ein wenig pflichtschuldig wirkende, aber vielleicht auch dem Komponisten am Herzen liegende Nachspiel doch noch zum Frieden führt. Die Schlußspannung steht, und ein für das unbekannte und fordernde Werk sehr intensiver und ausdauernder Applaus macht sich breit.

Pjotr Tschaikowskis Violinkonzert D-Dur op. 35 stellt den eingangs erwähnten Hit dar, wenngleich auch dieses Stück ein wenig Anlaufzeit brauchte, bevor es Ende des 19. Jahrhunderts doch noch seinen Siegeszug begann und bis heute zu den populärsten Vertretern seines Genres zählt. Das Hauptthema des eröffnenden Allegro moderato mag auch mancher sonst wenig klassikaffine Hörer im Ohr haben – Solistin Antje Weithaas nimmt selbiges an diesem Abend anfangs allerdings sehr akzentuiert und zieht es später in die Breite, den Hörer damit alles andere als in Sicherheit wiegend, sondern seine Hörgewohnheiten durchaus herausfordernd. Solistin und Dirigent arbeiten elegant und unaufdringlich miteinander, Wagner nimmt bisweilen gar die für Andris Nelsons typische Haltung mit der Hand links hinten am Gitter des Dirigentenpodestes ein. Das Tempo bleibt überschaubar, einzelne blitzartige Attacken kommen aber mit der intendierten Schärfe, und die Herausforderung an den Hörer, sich beim Hauptthema und seiner Verarbeitung nicht zu sehr einlullen zu lassen, bleibt auch im weiteren Verlauf des Satzes erhalten. Die Kadenz hat Tschaikowski ungewöhnlich früh im Satz plaziert, und Antje Weithaas geht diese ziemlich forsch an, beweist aber ein exzellentes Gefühl für Spannungsauf- und -abbau. Für die Spitzentöne braucht sie ein wenig Anlaufzeit, aber dann kommen diese mit einem enorm hohen Entrückungsfaktor aus dem Instrument. Das Hin und Her geht auch nach der Kadenz gekonnt weiter, im Finale liegt eine große Portion Energie und Spritzigkeit, und in der übersichtlichen Besetzung wirkt das stilistisch gleich mal 100 Jahre älter, was man so auch selten hört.
Die Canzonetta muß zunächst einige Bodenwellen im Holzteppich einebnen, aber die erzeugte Stimmung ist die gewünschte eskapistische, in die sich auch die hier gedämpft gespielte Solovioline einreiht, was Weichheit und Lieblichkeit des Tons angeht. Wagner nimmt das ziemlich intensive Instrumentengestreichel oft sehr weit zurück, verhindert aber etwaige Langeweile, indem er die winzigen Verzögerungen sehr geschickt austariert.
Das Allegro-vivacissimo-Finale hängt attacca an – allerdings nur im Orchester: Die Solistin schweigt rings um den Satzwechsel und baut den Dämpfer wieder ab. Es entwickelt sich viel Lebendigkeit, allerdings muß man den Maßstab im Auge behalten: Das Konzert ist fast ein Jahrhundert älter als die Weinberg-Sinfonie, zudem stilistisch ganz anders gelagert, und für einen fröhlichen Kehraus, wie ihn Weinberg im ersten Teil seines dritten Satzes inszeniert, wäre Tschaikowski wohl ins Irrenhaus eingeliefert worden. Im hier gegebenen Rahmen aber agieren alle Beteiligten äußerst zügig – selbst das etwas groovigere Seitenthema flitzt um die Ecken, als gäbe es kein Morgen. Und der Hörer beobachtet beeindruckt, wie Weithaas förmlich ins Orchester hineinhorcht, wenn es an die Gestaltung winziger Verharrungen geht, und Wagner klug genug ist, sie einfach machen zu lassen. So entwickelt sich über zwischenzeitliches ähnlich kompetentes Gesäge im Satzfinale eine äußerst energiegeladene Interaktion zwischen Solistin und Orchester, die zu sofortigen Jubelausbrüchen des beeindruckten Publikums führt. Weithaas bedankt sich mit einer Zugabe: dem ersten Satz Obsession aus der Sonate für Violine solo op. 27 Nr. 2 von Eugène Ysaÿe, dessen Bach-Zitate auf die Affinität des in dieser Sonate „porträtierten“ Geigers Jacques Thibaud zu besagtem Komponisten verweisen und wohl nicht nur beim Rezensenten für anfängliche Verwirrung sorgen, aber dem abermals beeindruckenden Spiel der Solistin ein letztes glänzendes Detail hinzufügen. Wer das Review zeitnah nach Erscheinen liest, kann sich selbst ein akustisches Bild verschaffen: Der Deutschlandfunk hat das Programm aufgezeichnet (offenbar die Konzerte an den beiden Vortagen in Gera, denn in Altenburg ist zumindest kein Equipment sichtbar) und sendet es auf Deutschlandfunk Kultur am 14.02.2019 um 20.03 Uhr.

Roland Ludwig


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