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30.000 Noten und eine russische Rarität: Rachmaninow und Tanejew im Philharmonischen Konzert in Altenburg

Info

Künstler: Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera

Zeit: 20.01.2017

Ort: Altenburg, Landestheater

Internet:
http://www.tpthueringen.de

Lehrer-Schüler-Beziehungen bieten immer einen guten Ansatzpunkt für Konzertprogramme, und das 4. Philharmonische Konzert des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera nutzt diese Möglichkeit auch – aber es erweitert sie noch: Sergej Rachmaninow ist der Schüler, und dessen Klavierkonzerte gehören zum gängigen Kanon der von mitteleuropäischen Orchestern dargebotenen Programme. Hingegen dürfte kaum jemand zuvor schon einmal eine Sinfonie von Rachmaninows Lehrer Sergej Tanejew gehört haben, und so macht sich eine gewisse Neugier breit.

Rachmaninows 3. Klavierkonzert bildet die erste Konzerthälfte, und am Klavier sitzt kein Geringerer als Bernd Glemser, ein Mann, der üblicherweise mit Orchestern der A-Kategorie musiziert, aber auch regelmäßig bei den Altenburg-Geraern auftritt. Die Bühne in Altenburg ist relativ schmal, so daß das Klavier zentral vor dem Dirigentenpult steht und der dort stehende Laurent Wagner sich regelmäßig um 120 bis 150 Grad drehen muß, will er Direktkontakt mit dem Pianisten aufnehmen – auf Dauer keine gesundheitsfördernde Situation, aber zumindest entschädigt das künstlerische Ergebnis ein wenig für eventuelle Rückenschmerzen des Dirigenten. Der Rezensent wiederum sitzt in Reihe 6 genau gegenüber des geöffneten Deckels des Klaviers und bekommt von diesem daher eine volle Klangbreitseite ab, was ihm folglich kein Urteil über die generelle Klangbalance erlaubt. Zumindest das sonst bisweilen auftretende Problem, daß ein Orchester den Klavierklang übertönt, ist an diesem Abend für ihn weit entfernt – die Übertönungssituation liegt eher in der reziproken Richtung, auch wenn das Ohr im Verlauf der drei Sätze „lernt“, bestimmten Richtungen, aus denen der Klang bestimmter Instrumente von der Bühne kommt, gegebenenfalls etwas intensiver zu lauschen. Für diese kleine Zusatzmühe entschädigt aber ein generell richtig gut gewählter Interpretationsansatz aller Beteiligten. So gerät der erste Teil des „Allegro ma non tanto“ überschriebenen Eröffnungssatzes sehr schön fließend, und trotz des dominanten Klavierklanges hat man nicht das Gefühl, dass Glemser den ersten großen pianistischen Zusammenbruch etwa überbetonen würde. Auch das Orchester macht dann zwar düster, aber nicht sonderlich abgründig weiter, und soweit der Rezensent das hören kann, stimmt auch die Feinjustierung zwischen ihm und dem Pianisten. Im Dynamiksinn lassen sich beide Parteien noch Steigerungsmöglichkeiten offen und beginnen diese dann schrittweise zu nutzen: Auch wenn von ganz hinten, also aus dem Blech, gefühlt wenig Druck kommt, gelingt dem Orchester doch ein recht wütender zentraler Ausbruch, und Glemser bedient mit seinen Füßen nicht nur die Pedale seines Instruments, sondern stampft auch gern mal auf dem Bühnenboden auf. Die Kadenz wechselt zunächst von wildem Gefrickel in den großen Harmonieakkordbaukasten, bevor die Dialoge mit einzelnen Orchesterinstrumenten eher verpuffen, da man letztere kaum hört, wofür aber die epische Breite des Satzfinales entschädigt.
„Intermezzo“ hat Rachmaninow den zweiten Satz betitelt und ein Adagio-Tempo vorgegeben – Laurent Wagner hält sich daran auch und erzeugt mit dem Orchester ausgedehnte, ruhige und nur leicht angedüsterte Klanglandschaften, in die sich Glemser dann einmischt, indem er (planmäßig!) für Unruhe sorgt und geschickt zwischen Spannung und Entspannung pendelt. Der Komponist hat hier einiges an Konfliktpotential versteckt, und Wagner und Glemser lassen bestimmte Elemente gern aufeinanderprallen, anstatt ausgleichend zu wirken. Dazu kommen strukturell interessante Elemente wie die groovenden Dreiertakte oder der exzellente fahle Blechchoral.
Viel Witz und Strukturierungsfähigkeit verrät auch der Übergang in den attacca angehängten Finalsatz, „Alla breve“ überschrieben: Zwar macht scheinbar Glemser das Tempo, in Wirklichkeit blasen aber die Holzbläser zur Attacke. In der Folge wird das musikalische Geschehen teilweise folkloristisch, teilweise aber auch zirkusartig, wobei letztere Elemente hier mit vollem Ernst eingesetzt werden, also ohne die bittere Ironie, die zwei Generationen später Schostakowitsch mit derartigen Motiven verband. Das Zusammenspiel des Pianisten, der eine immense Arbeit bewältigen muß (Statistiker haben errechnet, daß er in der knappen Dreiviertelstunde 30.000 Noten zu spielen hat, was unter Berücksichtigung der Tatsache, daß es auch längere Orchesterpassagen ohne Klavier gibt, einen Schnitt von 13 Noten pro Sekunde ergibt – eine sportliche Höchstleistung wird hier also gefordert), mit dem Orchester funktioniert auch in diesem Satz sehr gut, auch dann, wenn abermals Kontraste aufeinanderprallen, also etwa das Orchester weite Landschaften zeichnet, während der Pianist in Höchstgeschwindigkeit über diese hinwegrennt. Die Dynamikgrenzen setzt Wagner noch ein Stück weiter außen als im ersten Satz, damit einen großen Bogen über das ganze Werk schlagend, die appellierenden Passagen machen viel Druck, und das Finale gerät so energisch zupackend, daß die ersten Bravi noch fast in den Schlußton hinein erklingen. Für die ausgesprochen positiven Resonanzen des Publikums bedankt sich Glemser noch mit einer förmlich entrückt wirkenden Zugabe: Bachs „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ BWV 639 aus dem Orgelbüchlein in der Klavierfassung von Ferruccio Busoni.

Sergej Tanejew trat schon als zehnjähriges Wunderkind ins Moskauer Konservatorium ein, wo u.a. Peter Tschaikowski zu seinen Lehrern gehörte, und später unterrichtete er selbst jahrzehntelang an dieser Institution, wo neben Rachmaninow auch Alexander Skjabin zu seinen Schülern gehörte. Dessen früher Tod anno 1915 besiegelte kurioserweise auch Tanejews Schicksal, denn bei Skrjabins Beerdigung zog sich Tanejew eine Erkältung zu, verschleppte sie und starb keine zwei Monate später an den Folgen. Die Zeitgenossen schätzten von Tanejews Werken besonders die Kammermusik und sein Durchbruchswerk, die Kantate Johannes von Damaskus, während die vier Sinfonien ein Schattendasein führten und überhaupt nur eine, nämlich die vierte, zu Lebzeiten des Komponisten an die Öffentlichkeit gelangte. Selbige Sinfonie Nr. 4 c-Moll op. 12, anno 1896 komponiert, liegt nun auch auf den Pulten des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera – und sie ist eine Entdeckung, stellt sich schnell heraus. Die Einleitung des „Allegro molto“ betitelten Eröffnungssatzes erinnert an einen uralten Krimisoundtrack, aber dem setzt Tanejew ein walzerähnliches Zweitthema entgegen und verlangt ein relativ vielschichtig-kleinteiliges Tempomanagement, dem sich Wagner und sein Orchester aber problemlos gewachsen zeigen – und da jetzt kein Klavier mehr im Wege steht, kann man auch die Qualität der orchesterinternen Feinabstimmung besser bewerten und ist angetan. Auch Übergänge von Dampfwalzenrhythmik zu großer Lieblichkeit muß man erstmal so hinbekommen wie an diesem Abend, und im Finale dieses Satzes meißelt Wagner förmlich einzelne Blöcke aus dem Ganzen, läßt sich aber noch einiges an Dynamikreserven offen.
Im zweiten Satz braucht er die erstmal noch nicht: Er nimmt das „Adagio“ langsam, aber weder schleppend noch richtig düster, rollt breite Streicherteppiche aus und entfaltet eher so etwas wie Lieblichkeit, bevor die Düsternis doch etwas zunimmt. Aber das hält nicht lange an: Die Oboe bläst zur Gegenbewegung, es entwickelt sich eine völlig adagiountypische Leichtigkeit, aus dem Holz kommt vielstimmiges Gezwitscher, und der Rest des Satzes besteht aus geschickten Verknüpfungen einzelner der bisher genannten Elemente, ohne irgendwo in einen Abgrund zu fallen, vor den die Kollegen Tschaikowski oder Bruckner den Hörer gern zu stellen pflegten. Das Satzfinale bietet gar hübsche Kammermusik, die Hörspaß macht, auch wenn das Horn nicht ganz auf der Höhe seiner Kollegen landet.
Weil Tanejew an dem Holzgezwitscher so viel Gefallen gefunden hat, setzt er es im kurzen „Scherzo“ gleich nochmal ein und schreibt dem Orchester dann einen Rhythmus vor, der sich eher zum Marschieren eignet und nur äußerst schwer zum Schwingen zu bringen ist. Wagner und das Orchester schaffen letzteres trotzdem und verleihen dem kurzen und eher unauffälligen Satz so ein spezielles Kolorit.
Denn: Im Finale verwendet Tanejew Anleihen aus der Militärmusik, und die muß dort natürlich auch so klingen wie solche. Schon die Einleitung hat einiges an Dramatik zu bieten, die kleine Trommel ruft zum Kampf, aus den Pauken kommt Gewehrfeuer – aber der Kampf endet bald und weicht zirkusartigen Elementen, auch hier wohl eher ohne doppelten Boden. Oder vielleicht doch mit einem solchen? Mitten im Krieg Zirkus zu spielen hat schließlich schon etwas Paradoxes, und es fällt einem der alte Eberhard-Cohrs-Witz ein, als selbiger auf der Suche nach Arbeit ein Stellenangebot vom „Werbezirkus Mando“ bekommt, wo sich dann herausstellt, daß es sich um das Wehrbezirkskommando handelt (Cohrs‘ Kommentar nach Aufklärung: „Zirkus bleibt Zirkus“). Sei es, wie es sei: Das Orchester beginnt einiges an Energie zu evozieren, wobei die schlauchförmige Bühne durchaus hilfreich ist, aber Tanejew setzt kontrastierend auch auf sparsamer instrumentierte Passagen, die eine gewisse Nervosität deutlich machen. Dafür verdient sich das Blech ein Sonderlob für seine Passagen mit Quasi-Fernorchesterwirkung, ohne daß die Spieler aber die Bühne verlassen. Den Übergang in den ausführlich zelebrierten Schlußtriumph setzt Tanejew etwas abrupt und unvorbereitet, geradezu kampflos, und dieser Schlußteil in C-Dur erinnert paradoxerweise an den Schluß von Schostakowitschs 40 Jahre später geschriebener 5. Sinfonie, nur völlig ironiefrei – dort wurden die Jubler bekanntlich zum Jubel gezwungen, hier tun sie es offensichtlich freiwillig (ob auch anlasslos, muss offenbleiben). Jedenfalls bringen es Wagner und das Orchester fertig, den Finalbombast nicht zu strahlend wirken zu lassen, also auch hier eine gewisse Diversifizierung vorzunehmen, über die man intensiv nachdenken kann. Viel Applaus belohnt Dirigent und Orchester nach dieser Entdeckungsreise, und der in der Reihe hinter dem Rezensenten sitzende Theaterdramaturg bekommt von einem Rezensentenkollegen zu hören, daß man davon gerne mehr hören würde. Wer das Review zeitnah nach Erscheinen liest, kann aber zumindest diese 4. Sinfonie auditiv nacherleben: Deutschlandradio Kultur hat die Aufführungen an den beiden Abenden zuvor in Gera mitgeschnitten und sendet den Mitschnitt am 02.02.2017 um 20.03 Uhr.

Roland Ludwig


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