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Reviews

Machaut, G. de (Musica Nova)

Die Motetten


Info

Musikrichtung: Mittelalter Ensemble

VÖ: 01.06.2011

(Aeon / Note 1 / 2 CD / DDD / 2002 / Best. Nr. AECD 1108)

Gesamtspielzeit: 85:22

KONSTRUKTIVE DEKONSTRUKTION

Eine fast schon legendäre Einspielung: 2002 legte das Ensemble Musica Nova bei Zig-Zag Territoires ein Doppelalbum mit sämtlichen 23 Motetten von Guillaume de Machaut vor. Das Ensemble nahm diese rund 650 Jahre alte Musik beim Wort. Wenn schon Machaut drei Stimmen auf drei unterschiedliche Texte in unterschiedlichen Metren singen ließ, dann verstand er seine Kompositionen wohl als Baukästen, die ganz unterschiedliche Interpretationen erlaubten: integral & rein vokal oder integral & rein instrumental - oder auch als Mischung von Stimmen und Instrumenten. Auch Aufführungen in Form von einzelnen ausgewählten Stimmen in vokaler oder instrumentaler oder gemischter Besetzung sind möglich. Durch dynamische oder räumliche Differenzierung können unterschiedliche Kombinationen von virtuellen „Haupt“- und „Begleitstimmen“ erzeugt werden. Der Background-Chor wäre dann eine Erfindung des Mittelalters … Solistische und quasi-chorische (doppelte) Besetzungen können ebenfalls wechseln. Mögen solche Freiheiten in der Darbietung auch spekulativ anmuten, so funktioniert diese Interpretationen doch außergewöhnlich gut, zumal bei einem solchen Mammutprogramm.

Ein gutes Beispiel für dieses Vorgehen ist die 6. Motette: Sie eröffnet als hohes tenorales Solo auf den lyrischen Text S’il estoit nuls qui pleindre se deüst … das Programm. Der treibende, fasst schon jazzige Rhythmus, den diese als „Motetus“ bezeichnete Oberstimme charakterisiert, wird durch ein kraftvolles Tambourspiel untermalt. Daran schließt sich die „Gesamtaufführung“ der vollständigen Motette für drei Stimmen an: Motetus, Triplum (Mittelstimme) und Tenor (Unterstimme) erklingen gleichzeitig. Nun gibt es die für die mittelalterliche Motette üblichen mehrsprachigen Polyphonien zu hören: Motetus und Triplum sind auf zwei altfranzösische Liebesgedichte komponiert, der Tenor besteht aus einem kurzen gregorianischen Choralfragment, wobei die Notenwerte sehr lange ausgehalten werden. Diese Mixtur ist typisch für die mittelalterliche Motette, die im Wesentlichen eine weltliche Gattung mit geistlichem Fundament war. Der rhythmische Zug, der die erste Version gekennzeichnet hat, wird in der Vollversion zugunsten eines flüssiger artikulierten Kontrapunkts zurückgenommen, aber die hohe Motetus-Stimme lässt sich im Reigen der Stimmen noch gut vernehmen.
Gleich bei mehreren Kompositionen hat sich das Ensemble solcher Kombinationsspiele bedient, um die mobile Form der Musik offenzulegen.

Gesungen und musiziert wird bei dieser konstruktiven Dekonstruktion mit offenem, emphatisch deklamierenden Ansatz. Blockflöte, Harfe, Drehleier und Schlagzeug erweitern das Farbspektrum, treten auch solistisch hervor. Dies unterstreicht die Modernität Machauts, dessen herbe Harmonik schon hundert Jahre später als barbarisch verschrien war, für heutige Ohren aber aufregend zeitgenössisch klingt (und zugleich schön!).

Nachdem das Ensemble Musica Nova seit einiger Zeit exklusiv bei Aeon veröffentlicht, wurde nun auch die Zig-Zag-Produktion übernommen. Das Booklet enthält wie schon die Erstauflage die umfangreichen Texte aber leider nicht den ausführlichen Kommentar. Hier muss man sich mit einer Kurzversion begnügen.
Man wünscht dieser Wiederauflage viele neugierige Hörer: So aufregend kann mittelalterliche Musik sein!



Georg Henkel

Besetzung

Ensemble Musica Nova
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So bewerten wir:

00 bis 05 Nicht empfehlenswert
06 bis 10 Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert
11 bis 15 (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert
16 bis 18 Sehr empfehlenswert
19 bis 20 Überflieger