Musik an sich


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Wolfgang Niedecken & Complizen

Schlagzeiten


Info
Musikrichtung: Deutsch-Rock / Songwriter

VÖ: 1987

(EMI)

Gesamtspielzeit: 48:18


Wohl kaum eine andere deutschsprachige Rockband ist jemals so erfolgreich gewesen, wie BAP in der ersten Hälfte der 80er. Nach Veröffentlichung ihres vierten Albums vun drinne noh drusse waren die Kölner zeitweise mit drei Alben gleichzeitig(!) in den Top Ten der deutschen Verkaufscharts vertreten. Irgendwann war dann die Puste raus. Um nicht völlig auszubrennen, legte die Band eine Pause ein.

Das war die Gelegenheit für Wolfgang Niedecken Notizzettel mit Ideen aus der Schublade zu holen, die bei BAP nicht eingebracht werden konnten. Bereits auf vun drinne noh drusse hatte man der Befürchtung dem etwas despektierlichen Etikett des „Vorstadt-Dylans“ neue Nahrung zu geben keine sonderliche Beachtung mehr geschenkt und eine Cover Version von „Like a rolling Stone“ aufgenommen.

Auf Schlagzeiten findet sich mit „Vatter“ ein weiteres Dylan-Cover, in dem Niedecken sich anlässlich des Attentats auf Pinochet 1986 mit Diktaturen auseinandersetzt. Mit tollem Groove und Saxophon-Solo wird dem Original aber reichlich Feuer unterm Hintern gemacht. Aber auch an anderen Stellen taucht der Geist Dylans auf. In der von Paul Kuhn arrangierten Big Band Nummer „Neuleed“ entwickelt sich die Handlung ähnlich anarchisch, wie man das von mancher Dylan-Nummer kennt.

Etwas weniger rockig als mit BAP bleibt Niedecken aber auch auf seinem Solo-Album vor allem den Trademarks seiner Band treu. Mit hellwachem Blick beobachtet er die Welt, in der er lebt, und kommentiert sie liebevoll und kritisch. „Nie met Aljebra“ ist ein Lied an sich selbst, das zum Zeitdokument wird, indem er durch die Beschreibung seiner Jugend die deutsche Nachkriegszeit wieder lebendig macht.
Ungeheuer differenziert beschreibt „Leechterkette“ im Spiegel der Träume eines Jugendlichen die DDR-Realität. Und bei aller Kritik wird auch dem Gedanken, dass an dem, wofür die DDR stand, doch auch irgendwas gewesen sein muss, Raum gegeben.
Grandios auch das Portrait des Stadtstreichers „Will“, der völlig abgerissen geistig in einer besseren(?) Vergangenheit lebt. Die erste Aufnahme des Gesangs fand nach einer durchsoffenen Nacht statt. Dementsprechend klang Niedeckens Stimme. Aus „inhaltlichen Gründen“ wurde genau diese Aufnahme in Vinyl gepresst.
Die eigene Realität des Rockstars wird sowohl durch das angepisste „Landplooch“, das einen Star-Stalker disst, als auch vor allem durch „Maat et joot“ eingefangen. Hier thematisiert Niedecken die tragische Tatsache, dass der Star-Ruhm fast automatisch eine Mauer zwischen Star und Fan aufbaut. Mit den oft sehr persönlichen kommentierenden Texten, die er sowohl dieser Solo-Scheibe, wie allen BAP-Scheiben beigelegt hat, ist der Versuch gemacht worden, den persönlichen Kontakt zu den Fans zu halten, wie es damals in der Eckkneipe in der Kölner Südstadt möglich war. Mit der Aura, die den „Helden“ Niedecken umwehte, war eine solch direkte Begegnung aber oft nicht mehr möglich.
Die Verbundenheit mit politisch aktiven Initiativen macht auf Schlagzeiten vor allem „Gröön en Platania“ deutlich, in dem sich der Sänger auf die Seite von Demonstranten stellt, die gegen die Fällung uralter Bäume in der Kölner Innenstadt protestierten.

Eine fantastische Scheibe, die musikalisch zwischen Rock, Liedermacher, Big Band und Reggae vagabundiert.



Norbert von Fransecky



Trackliste
1Nie met Aljebra 9:59
2 Leechterkette 5:31
3 Vatter 4:22
4 Für 'ne Fründ 4:42
5 Maat et joot 4:27
6 Will 3:20
7 Gröön en Platania 4:46
8 Landplooch 4:39
9 Neuleed 6:18
Besetzung

Wolfgang Niedecken (Voc, Git <6,7>)
Dominik von Senger (Git, Banjo <5>)
Schmal Boecker (Perc)
Mattes Keul (Keys)
Axel Risch (B, Voc <5>)
Kalau Keul (Voc <1,2,3,4,5,7,8>, Git <2,5,6,8>)
Anne Haigis (Voc <3,4,8>)
Renate Otta (Voc <3,4,8>)
Jan Dix (Dr, Perc <3,5,7,8,9>)
Christian Schneider (Sax <1,2,3>)
Julian Dawson (Mundharmonika <3>)
Daniel Barrios (Sprecher <3>)
Tommy Engel (Voc <4,7,9>)
Wolf Maahn (Voc <7>)
Erry Stocklosa (Voc <4,7>)
Klaus von Wrochem (Geige <7>, Panflöte <7>)
Rainer Winterschladen (Trompete <8>)
Wolfgang Schubert (Sax <8>)
Frank Gratowski (Sax <8>)
Jürgen Zeltinger (Voc <9>)
Div Bläser <9>


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