Musik an sich


Reviews
Nono, L. (Hirsch - Ryan)

Prometeo. Tragedia dell’ascolto (1981/1985)


Info
Musikrichtung: Neue Musik Musiktheater

VÖ: 19.10.2007

Col legno / harmonia mundi
2 SACD (AD 2003) / Best. Nr. 20605


Gesamtspielzeit: 135:00



MEILENSTEIN NEUER MUSIK

Wie ein überdimensionales, in die Unermesslichkeit von Raum und Zeit hineingedehntes Madrigal nimmt sich Luigi Nonos (1924-1990) „Oper“ Prometeo aus. Zeit und Geduld sind beim Hören unbedingt erforderlich, ebenso die Bereitschaft, das Hören überhaupt neu auszurichten.
Der Untertitel, Tragedia dell’ascolto, „Tragödie des Hörens“, verweist bereits auf den gänzlich unszenischen und untheatralischen Charakter des Werkes. Ein Drama des Klangs, das sich ausschließlich in und durch die Musik ereignet; es ist allein für die Ohren, nicht für die Augen bestimmt. Mehr als einige im Raum verteilte instrumentale und vokale Klanggruppen gibt es auch nicht zu sehen.
Und obwohl Nono ein Libretto vertonte, das sich aus zahlreichen Quellen von der antiken Tragödiendichtung bis hin zu Walter Benjamin speist, gibt es keine durchgehende Handlung, sondern lediglich eine assoziationsreiche Textcollage, die freilich vom Komponisten mehr oder weniger in unsemantische Klänge aufgelöst wird. Dennoch ist der Text keine Nebensache. In den literarischen Fragmenten spiegelt sich die Tragödie der Menschheit und ihrer Geschichte.

Unterstütz durch elektronische Klangaufbereitungen und zwölf Lautsprecher beginnt die nicht minder fragmentarische Musik im Raum zu wandern und zu kreisen und einen virtuellen musikalischen Raum auszubilden. Da überlagern sich die oft im hohen und sehr hohen Register angesiedelten Klänge, verschmelzen miteinander und durchlaufen ständige Metamorphosen. Viertel-, sechst- und achteltönige Tonkomplexe bilden unwirkliche Harmonien aus, die zwischen Klang und Geräusch changieren.
Ätherische Gesangslinien, die vielfach aufgespalten und wieder zusammengeführt werden, mäandern im Raum. Zwischen siebenfachem Pianissimo und Fortissimo geht die Dynamik manchmal in Bereiche jenseits des Ausführbaren. Lange Generalpausen lassen den Klängen viel Luft zum Atmen, dehnen die feinmaschige Musik allerdings auch bis zum Zerreißen. Oft wirkt die Musik wie eingefroren, erstarrt in der extremen Höhe der Soprane; dann wieder tönt sie abgründig tief; kaum mehr als ein atmosphärisches Raunen ist vernehmbar.
Nono arbeitet mit differenziertesten Zwischenstufen, Abschattierungen und Tönungen des Klangs. Aber auch mit den Extremen: Feinste, kaum noch vernehmbare Schwebungen stehen neben aggressiven Klangentladungen vor allem der Blechbläser; grell dissonante Ausbrüche wechseln mit überirdisch schönen Harmonien. Brutales steht neben – überwiegend – Zartem und Allerzartestem, akustische Ferne verwandelt sich in bedrängende Nähe, während das Nahe plötzlich unwirklich fern erscheint.

Dass der bekennende Marxist Nono, der durch seine dezidiert linkspolitisch-avantgardistische Musik in den 60er und 70er Jahren das Publikum wie Kritiker und Kollegen polarisierte, dem (niemals glatten) Schönklang derartig breiten Raum gibt und nicht nur die Aura, sondern auch die klingende Substanz alter geistlicher Musik beschwört, verblüfft. Freilich erscheint die sakrale Klanganmutung fragmentiert und tastend, oft nur noch als Nachklang, der aus weiter Ferne herbeitönt. Das hat seine ergreifenden und enervierenden Momente, ist aber als konsequent durchgeführtes ästhetisches Konzept durchaus bezwingend.

Einem solchen Projekt ist nicht mit der klassischen Stereo-Technik beizukommen. Die SACD bietet endlich die Möglichkeit, Nonos Klangvisionen für den Hausgebrauch im Surround-Klang einzurichten. Drei Jahre hat es gedauert, bis diese Freiburger Neuaufnahme fertig war. Das Warten hat sich gelohnt: Nach Ingo Metzmachers inzwischen vergriffener Stereoversion (EMI) ist diese Produktion von Nonos sperrig-anheimelndem Opus die neue Referenz geworden. Die Prometeo-erfahrenen Ausführenden, von denen manche schon bei der Uraufführung mitwirkten, stellen sich unter der Leitung von Peter Hirsch und Kwamé Ryan ganz uneitel in den Dienst des Mammutwerkes, das zwar überwiegend exzeptionelle solistische Leistungen verlangt, aber dennoch keinem Solisten Raum zur effektvollen Selbstdarstellung gibt.
Auch die Edition ist mustergültig: Zum umfangreichen Beiheft mit mehreren Aufsätzen gibt es eine eigene Hörpartitur mit allen Texten und genauen Zeit- und Besetzungsangaben. Selten war es leichter, einer zeitgenössischen Komposition zu folgen. Ein diskographisches Ereignis.



Georg Henkel



Besetzung

Petra Hoffmann, Monika Bair-Ivenz – Sopran
Susanne Otto, Noa Frenkel – Alt
Hubert Mayer – Tenor

Sigrun Schell, Gregor Dalal – Sprecher

Solistenchor Freiburg
ensemble recherche
Solistenensemble des Philharmonischen Orchesters Freiburg
solistenensemble des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg

Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR, Freiburg

André Richard, Regie

Ltg. Peter Hirsch / Kwamé Ryan


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