Musik an sich


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Händel, G. F. (Jacobs)

Agrippina


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 14.10.2011

(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / 3 CD & DVD / DDD / 2010 / Best. Nr. HMC 952088.90)

Gesamtspielzeit: 203:00



ÜBERREIF

Wenn René Jacobs beim Dirigieren ein Hilfsmittel zur Hand nimmt, dann ist es ein Bleistift. Bei Anhören seiner neuesten Aufnahme, G. F. Händels früher venezianischer Oper Agrippina, stellt man sich einen sehr feinen, sehr gut gespitzten Bleistift vor, mit dem Jacobs nicht nur seine bewährten Solisten und die Akademie für Alte Musik Berlin anleitet, sondern auch seine Partitur über und über mit Anmerkungen versehen hat. Bei dieser Einspielung nämlich gibt es praktisch keine Note, keine Phrase und keinen Takt, die rhetorisch nicht minuziös durchgestaltet worden wären. Alles atmet, spricht und vibriert vor Ausdruck, selbst jedes Detail im Continuo ist auf eine dramatische oder malerische Wirkung hin geformt.

Diese über mehr als zehn Jahre in zahlreichen Aufführungen gereifte Interpretation ist eine Absage an jedes wohlfeile, allzu gefällig belkantische Musizieren nach dem barocken Schema F. So hat es Jacobs mit seinen Händeleinspielungen immer schon gehalten: Jede ist gleichsam eine handgemachte Einzelanfertigung und markiert eine Position in einem offenen Interpretationsprozess.
Bereits die Wahl der Fassung zeigt den historisch reflektierten Musiker. Erstmals wird die wohl noch in Rom entstandene Urfassung der „Agrippina“ zu Gehör gebracht, die weniger Da-capo-Arien enthält, dafür aber ein reicheres Spiel musikalischer Formen bietet und dramaturgisch viel stringenter gearbeitet ist. Händel hatte seinerzeit Anpassungen an die zunehmend stereotypere Seria-Praxis vorgenommen. Doch die ursprüngliche Version blieb im Manuskript hinter sauberen Strichen erkennbar. Dass Händel für seine erste italienische Oper zahlreiche Arien aus seinen römischen Kantaten recycelt hat, eröffnet interessante Einblicke in die Ambivalenz der Worte und Gefühle. Jacobs belässt es nicht nur bei der Darstellung seiner Forschungsergebnisse im voluminösen Beiheft. Dieser Produktion gelingt es auch noch wie kaum einer vor ihr, Händels Spiel mit Doppeldeutigkeiten und Ironie musikalisch zu verdeutlichen. „Aggrippina“ ist eine ätzend satirische Tragikomödie.

Träger des Dramas sind die umfangreichen Aktionsrezitative und Jacobs lässt in seiner Interpretation keinen Zweifel daran, dass selbige nicht nur Überleitungen zwischen den Arien, sondern Ausdrucksträger sind, die sich in ihrer dramatischen Durchschlagkraft auf der Höhe der Nummern bewegen.
Man hört, dass die Traditionen des 17. Jahrhundert in dieser Oper noch ganz lebendig sind. Im Grunde wird die „Agrippina“ in dieser Einspielung ganz vom Rezitativ her begriffen, auch in den Arien. Das Singen basiert auf einem ausdrucksvollen Sprechen.

Die Konsequenz, mit der dieser Ansatz verfolgt wird, ist eindrucksvoll, wirft allerdings auch Fragen auf. Man könnte es auch anders sagen: Die lange Reifezeit der Interpretation ist in eine gewisse Überreife umgeschlagen. In Jacobs Deutung wird „Agrippina“ zu einem hypernervösen Stück, das den Hörer mit seinen Manieren auf Distanz hält.
Kaum einmal gibt es Entspannung, alles wirkt stets aufs äußerste zugespitzt. Die Nervosität rührt nicht zuletzt von dem reichen, wenngleich differenzierten Vibrato her, dass Jacobs als einen wesentlichen Ausdrucksträger einsetzt. Kaum ein Ton, der nicht mit einer mehr oder weniger großen Bebung gesungen wird. Dadurch erscheint gleichsam alles mehr oder weniger stark unterstrichen oder mit Ausrufezeichen gesungen.
In der Häufung gerät dieser Effekt zur Manier, die mit dem Fortgang der Oper immer angestrengter und penetranter wirkt. Da klingen die Stimmen der handverlesenen SängerInnen trotz der bewundernswerten Darbietungen irgendwann gekünstelt vor lauter Ausdruckswillen. Und da die Tendenz zur Ausreizung der Affekte sich auch im oft recht dominanten Orchesterspiel zeigt, kommt die Musik irgendwie gar nicht mehr von der Stelle. Gewiss, sie spricht, fließt aber nicht mehr so richtig. Was vielleicht am schwersten wirkt: Man fühlt gar nicht mit den Figuren mit, weil deren Leidenschaft so ausgestellt wirkt. Die Vokalerotik, die den sinnlichen Reiz der barocken Oper eben auch ausmacht, geht im Mikroespressivo dieser Interpretation verloren.



Georg Henkel



Trackliste
203:00

DVD Dokumentation 56:00

Besetzung

Alexandrina Pendatchanska: Agrippina
Jennifer Rivera: Nero
Sunhae Im: Poppea
Bejun Mehta: Ottone
Macos Fink: Claudio
Neal Davies: Pallante
Dominique Visse: Narciso
Daniel Schmutzhard: Lesbo

Akademie für Alte Musik Berlin

René Jacobs


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