Musik an sich


Reviews
Agricola – De la Rue u. a. (Schmelzer)

Cecus. Farben, Blindheit und Gedächtnis


Info
Musikrichtung: Renaissance Ensemble

VÖ: 01.10.2010

(Glossa / Note 1 / CD / DDD / 2010 / Best. Nr. GCD P 32105)

Gesamtspielzeit: 79:00



BLENDEND!

Björn Schmelzer wirkt mit seinen langen blonden Haaren und dem Bart eigentlich mehr wie ein Rocksänger als der Leiter eines Ensembles, das bislang vor allem durch Interpretationen von frankoflämischer Renaissance-Musik hervorgetreten ist. Allerdings hat der Stil von Graindelavoix durchaus etwas Rebellisches. So hat man die kunstvolle Polyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts eben noch nicht gehört: So exotisch. So farbig verziert. So impressionistisch schillernd und synästhetisch aufgeladen. Dass diese Musik nicht nur auf den kunstvoll beschriebenen Pergamentseiten Augenmusik ist, sondern überhaupt die Grenzen der einzelnen Sinne überschreitet, hat nicht erst Graindelavoix‘ flamboyante Interpretation von Nicolas Champions
Missa de Sancta Maria Magdalena
auf eindrucksvolle Weise gezeigt. Diese kunstvoll mit Verzierungen und chromatischen Zwischentönen durchwobene Musik entwickelt in ihren wechselnden Texturen geradezu taktile Qualitäten und „blendet“ gleichsam beim Hören die Ohren durch schiere Überforderung.

Um Blindheit geht es auch auf dem jüngsten Programm, Cecus. Farben, Blindheit und Gedächtnis. Wieder hat Schmelzer mit seinen kreativen Musiker/innen ein überaus anregendes, auf umfangreichen Recherchen basierendes Konzept-Album kreiert, bei dem das exzentrische Werk von Alexander Agricola und seinen Zeitgenossen im Mittelpunkt steht. Ausgehend von der umfangreich „kolorierten“ instrumentalen Komposition Cecus non judicat de coloribus (Ein Blinder urteilt nicht über Farben), deren Architektur praktisch ganz in Ornamenten aufgelöst erscheint, präpariert Schmelzer aus verschiedenen musikalischen, textlichen und bildlichen Quellen eine ästhetische Vision heraus, der zu Folge der die übersättigten ornamentalen „Farben“ der Musik Ausführende wie Zuhörende gleichermaßen blendeten. Und hört man schließlich das sinnenbetörende Ergebnis dieser Recherchen auf dieser CD, möchte man sich gerne vorstellen, dass diese Musik Ausführende wie Hörer in einen synästhetischen – gar psychedelischen? – Rauschzustand versetzt hat.

Dieses Konzept mutet ausgesprochen modern an: Für den französischen Komponisten und genuinen Synästhetiker Olivier Messiaen waren Klangfarbenmusik und überwältigendes Geblendetsein essentiell für sein Verständnis einer wahrhaft religiösen Musik. Interessanterweise haben ihn die gotischen Fensterrosetten mit ihren blau-violetten Farbräuschen zu seiner „Regenbogen-Musik“ inspiriert. So schließt sich der Kreis. Die synästhetischen Momente, die gerade in der Musik des 20. Jahrhunderts (nicht nur bei Messiaen, man denke an Alexander Skrjabin, Györgi Ligeti, aber auch an Morton Feldman oder Karlheinz Stockhausens LICHT-Zyklus) verstärkt begegnen, stehen also möglicherweise in einer sehr alten, aber nicht direkt schriftlich fixierten Tradition, die Björn Schmelzer und Graindelavoix mit ihren Interpretationen wiederentdecken.
Übrigens bleibt es auf der neuen CD nicht nur bei synästhetischen Blendungen: Auch der ergreifende Ausdruck vieler Werke teilt sich wirkungsvoll mit. Und so kommt auch die zweite Form der Blindheit auf dieser CD zu ihrem Recht: Tränenblindheit.
Pierre de la Rues eindringliche Trauerstücke zum Gedenken an Philipp den Schönen (in dessen Diensten auch Agricola stand) oder das erschütternde Nymphes des bois von Josquin Desprez auf den Tod von Johannes Oeckeghem legen davon Zeugnis ab, dass die Musik immer auch ein Mittel der Seelenführung und -rührung war.

Angesichts der perfekten Darbietungen erübrigt es sich, den spekulativen Anteil der Interpretationen veranschlagen zu wollen (der ist bei anderen Ensembles auch nicht geringer): Es ist schlicht wieder einmal durchweg überzeugend, was Graindelavoix hier an unerhörten Potentialen ausschöpft.



Georg Henkel



Trackliste
Anonymus: Romance de la muerte del muy esclarecido rey don
Felipe
Pierre de la Rue: Plorer, gemier, crier; Delicta
juventutis; Absalon, fili mi; Deleo super te
Alexander Agricola: Cecus non judicat de coloribus;
Fortuna desperata; Si dedero sompnium oculis meis; L'eure
est venue; Je n'ay dueil que de vous
Juan de Anchieta: Musica quid defles
Nicolas Champion: De profundis clamavi
Josquin Desprez: Nymphes de bois
Besetzung

Olalla Alemán, Patrizia Hardt: superius
Yves Van Handenhove, Marius Peterson, Paul De Troyer, Lieven Gouwy: tenor
Thomas Vanlede, Arnout Malfliet, Antoni Fajardo: bassus


Lluis Coll i Trulls: Zink
Jan Van Outryve: Lauten und Cittern
Floris De Rycker: Lauten
Thomas Baeté: Fiedel & Gambe
Liam Fennely: Fiedel & Gambe
William Taylor: Harfe
Joeri Wens: Schlagzeug

Björn Schmelzer: Leitung


Zurück zur Review-Übersicht
 >>