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Lotti / Zelenka / Bach (Hengelbrock)

Miserere, Missa a tre


Info
Musikrichtung: Barock

VÖ: 02.10.2009

(deutsche harmonia mundi / Sony / CD / DDD / 2008 / Best. Nr. 88697526842)

Gesamtspielzeit: 76:02

Internet:

Balthasar-Neumann-Chor und Ensemble

Thomas Hengelbrock



WIEDERHOLUNGSTÄTER

Er kann nicht von "seiner" Entdeckung lassen - und das ist auch gut so. Schon zum dritten Male legt Thomas Hengelbrock, demnächst neuer Chefdirigent des NDR-Sinfonieorchesters, eine Produktion mit einem geistlichen Werk des venezianischen Komponisten Antonio Lotti (1667-1740) vor. Wer die Vorgängerproduktionen mit Lottis Missa Sapientiae und seinem Requiem in F kennt, wird von der hohen Qualität der Missa a tre cori nicht überrascht sein. Das nur aus Kyrie und Gloria bestehende Werk besticht durch seine kunstvolle Mischung aus streng kontrapunktischen, erhabenen Chorteilen und geradezu innigen, expressiven Momenten. Kontraststark und dabei den Messtext musikalisch differenziert ausdeutend und beleuchtend - eine wahrhaft bemerkenswerte Vertonung.
Das Miserere c-moll von Jan Dismas Zelenka (1679-1745) bewegt sich in einer ähnlichen Klangwelt. Die beiden Ecksätze, die jeweils den Anfangsvers des Psalms vorstellen, sind von geradezu archaischer Wucht und solcher Strenge, dass der Wunsch nach göttlichem Erbarmen nur allzu logisch erscheint: der Mensch als unbedeutendes Geschöpf, das in den über ihn zusammenschlagenden, dissonanten Orchesterstimmen selbst mit seiner eindringlichen Klage kaum durchzudringen vermag. Extreme dynamische Effekte und eine Orientierung an der überlieferten Kunst des Kontrapunkts durchziehen die Komposition auch im Übrigen - den Zeitgeschmack am Dresdner Hof dürfte Zelenka damit kaum getroffen haben, dafür aber ist sein Miserere von zeitloser Größe.
Johann Sebsatian Bach schätzte, wie seine Bibliothek belegt, beide Kollegen. Doch sind die Gemeinsamkeiten keineswegs augen- bzw. ohrenfällig und die Koppelung mit seiner Kantate "Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen" daher nicht unbedingt zwingend. Da wäre mit einem weiteren Lotti- oder Zelenka-Werk vielleicht mehr zu gewinnen gewesen.

Hengelbrocks akribische Arbeit an dynamischen Abstufungen, am kurzen Hervorheben einzelner Orchesterstimmen und an der Perfektionierung des Chorklangs zahlt sich besonders in Lottis Messvertonung und Zelenkas Miserere aus. Bei aller Orientierung der Kompositionen am stilo antico gerät die Interpretation daher höchst ausdrucksstark, ja sogar persönlich und entbehrt damit aller Kühle. Der klein besetzte Chor entfesselt phasenweise eine erstaunliche Klanggewalt und das Orchester brilliert mit hoher Souveränität und ekstatischer Kraft. Angenehm abgeschliffen hat sich Hengelbrocks früherer Hang zur Hast - Spuren hiervon finden sich allenfalls noch vereinzelt, so im leicht hysterisch anmutenden Gloria Patri (Track Nr. 3).
Nicht ganz glücklich, vor allem im Hinblick auf Bachs anspruchsvolle Solo-Partien, ist die Entscheidung, die Soli einzelnen Chorsängern anzuvertrauen. Mag dies historisch korrekt sein, wird dadurch doch manche Möglichkeit vertan, die Arien zu musikalischen Perlen aufzupolieren, die den komplexen Chorsätzen ebenbürtig bzw. die idealen Ruhe- und Kontrapunkte hierzu wären. Vielleicht aber sind wir inzwischen durch die ständige Präsenz der sängerischen Solisten-Elite in dieser Hinsicht auch einfach nur zu sehr verwöhnt.



Sven Kerkhoff



Trackliste
1-6 Zelenka: Miserere c-moll
7-13 Bach: "Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen" Kantate BWV 12
14-27 Lotti: Missa a tre cori
Besetzung

Balthasar-Neumann-Chor
Balthasar-Neumann-Ensemble

Thomas Hengelbrock: Leitung


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