Musik an sich


Reviews
Mozart, W. A. (Jacobs)

Don Giovanni


Info
Musikrichtung: Klassik Oper

VÖ: 14.09.2007

harmonia mundi / harmonia mundi
3 SACD hybrid (AD 2006) / Best. Nr. HMC 801964.66


Gesamtspielzeit: 170



ALS DIE NOTEN LAUFEN LERNTEN

Mit dem Don Giovanni setzt René Jacobs seine Suche nach der verlorenen Mozart-Zeit fort. Zwar ist Jacobs beileibe nicht der erste, der sich dazu auf den Weg historisch-informierten Musizierens begeben hat. Er findet jedoch durchaus wieder eigene Lösungen, unter denen die tänzerische Animation der Musik besonders heraussticht. Wie schon bei Cosi und Figaro sollte es eine Interpretation ohne 19. Jahrhundert werden, ohne die Dämonen eines E. T. A. Hoffmanns, ohne Donna-Anna-Kult und Höllenfahrt in Zeitlupe. Ein bei aller Dramatik heiteres dramma giocoso (so der Untertitel), das sich aus barocken Wurzeln und den Traditionen der commedia dell’arte speist, schlank, transparent und agil, die Extreme auskostend und doch – ganz Mozart-klassisch – wieder versöhnend.
Ob Jacobs Version diesen Klassizismus in all seinen Facetten realisiert oder nur ein romantisches Interpretations-Konzept durch ein postromantisch-modernes, ebenso zeitgeistiges ersetzt, darüber wird immer wieder gestritten. Der Janusgesichtigkeit dieser Oper ist mit bloßen Konzepten nicht beizukommen. Entsprechend polarisiert die neueste Einspielung die Hörer.
Was die quellengestützte Begründung seiner interpretatorischen Entscheidungen angeht, ist Jacobs Selbstbefragung im luxuriös aufgemachten Beiheft zur Produktion mustergültig. Der Fairness halber muss jedoch gesagt werden, dass nicht alle „Entdeckungen“ so neu sind, wie Jacobs sie darstellt. Sein Anti-Modell dürfte der späte Karajan mit seinem glatt-pastosen Orchsterklang und den lähmenden Tempi sein. Doch schon bei Charles Mackerras klingt vieles sehr viel anders.

Am Ende zählen nicht Ideen, sondern die klingenden Ergebnisse. Und hier nimmt Jacobs Version im Ganzen ohne Zweifel durch ihre vibrierende Energie und Sinnlichkeit für sich ein. Herrlich die vielen Details, die vor allem in den fantasievoll begleiteten Rezitativen für ungebrochene Spannungsbögen sorgen. Wie schon beim Tito spürt man, dass Jacobs seine Wurzeln in der wortlastigen Venezianischen Barockoper hat, die bei ihm freilich ausgesprochen kurzweilig gerät. Die Tempi sind so eine Sache: In der finalen Komturszene bietet er die schnellste mir bekannte Lesart; ein etwas ruhigerer „Schritt“ wäre der Außerordentlichkeit der Situation durchaus angemessen gewesen und hätte dem Ganzen vielleicht nicht nur motorischen Drive verliehen.
Unter dem Vergrößerungsglas des Aufnahmestudios sticht als überragende Qualität das Spiel des Freiburger Barockorchesters heraus. Außerordentlich vielfältig sind die klangfarblichen Reize, die bis zu 42 Musiker/innen ihrem Mozart-Instrumentarium entlocken. Bestechend realisiert wird der packende Wechsel zwischen buffonesken, lyrischen, dramatischen und infernalischen Stimmungen, wobei bei den beiden letzteren freilich ohne die dominante Pauke nichts ginge. Man kann wahrscheinlich nicht alles haben: Was den reflexschnellen Streichern fehlt, ist jene düstere Wucht, welche die traditionellen Einspielungen auszeichnet - malerische, geheimnisvoll verschattete Klangfarben. Kurz: Atmosphäre (die freilich manchmal wabern kann wie Nebel und alles andere zudeckt).
Jacobs dagegen leuchtet mit den FBO-Leuten bei diesem doch eigentlich nächtlichen Spiel so ziemlich alle Winkel aus. Dafür erreicht er eine Tiefenschärfe und Plastizität, die schon visuell rüberkommt. Jacobs bringt sozusagen den Noten das Laufen bei. Das ist Kintopp fürs Ohr. Ein Don Giovanni, der wohl erst auf der Bühne ganz zu sich findet und die Szene braucht (die DVD der Innsbrucker Aufführung mit etwas anderer Besetzung soll bald erscheinen). Es bleibt die Erkenntnis, dass unsere modernen Ohren bei Opern-Aufnahmen vielleicht deshalb auf den Breitwand-Sound anspringen, weil den übrigen Sinnen nichts geboten wird. Das Ohr will als Entschädigung eben mehr auskosten und genießen.

Nach historischen Stimmtypologien wurden die Sänger/innen ausgewählt, wobei sie als einzelne der geballten Orchesterkraft schon mal unterliegen. Der 26jährige Johannes Weißer gibt den Don Giovanni hellbaritonal, als einen aufs schnelle Sex-Abenteuer versessenen Jungen (Cherubino mit Anfang 20) ohne großes Geheimnis: Er appelliert an die erotischen Instinkte seiner Partnerinnen, verspricht viel und hält nichts. Da wirkt der ältere und gesetzter klingende Leporello von Lorenzo Ragazzo in seinem komischen Opportunismus greifbarer. „Dramatisch“ im Sinne einer großen, durchschlagskräftigen Stimme sind auch die übrigen Sänger/innen alle nicht. Doch sie verstehen es, ihre leichten Instrumente sehr nuanciert einzusetzen. Die Donna Anna Olga Paschnyks besticht durch gut abgestimmtes Timbre und feingesponnen Ton vor allem in den ausdrucksvollen Arien; Alexandrina Pendatchanska bietet mit vibrierender, rotgoldener, manchmal auch giftig aufflammender Stimme das überzeugende Porträt der verlassenen Frau. Kenneth Tarvers empfindsamer Don Ottavio bleibt leider trotz der von Jacobs beabsichtigten Neubewertung der Rolle immer noch zu blass. Mehr Leidenschaft bitte, Ratio hin oder her. Sunhae Im gibt Zerlina kokett emanzipiert, mit etwas piepsiger Buffo-Stimme. Bis auf die beiden Primadonnen ragt kein Sänger außerordentlich heraus, insgesamt ergeben sie aber ein auf Jacobs Ansatz genau abgestimmtes Ensemble.

Ein Don Giovanni, der vor allem wegen seine Klang-Fantasie und Vitalität besticht und durch seine interpretatorische Konsequenz unter den historisch informierten Einspielungen eine Spitzenposition einnimmt.



Georg Henkel



Besetzung

Johannes Weisser – Don Giovanni
Lorenzo Regazzo - Leporello
Alexandrina Pendatchanska – Donna Elvira
Olga Pasichnyk – Donna Anna
Kenneth Tarver – Don Ottavio
Sunhae Im - Zerlina
Nikolay Borchev - Masetto
Alessandro Guerzoni - Komtur

RIAS Kammerchor
Freiburger Barockorchester

Ltg. René Jacobs


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