Musik an sich


Reviews
Couperin, F. (Borgwede)

4 Livres de pièces de clavecin


Info
Musikrichtung: Klassik, Cembalo

VÖ: 19.06.2006

Brilliant Classics (AD DDD 2005)

Gesamtspielzeit: ca.700


Gustav Leonhardts Couperin-Deutung zelebrierte noch ein asketisches Originalklang-Ideal. Das hat sich mit Olivier Baumonts (inzwischen auch schon etwas gealterten) Aufnahmen geändert, erst recht mit der Gesamtaufnahme, die Michael Borgstede von den vier „Livre de pièces de clavecin“ vorgelegt hat. Vieles geht er schneller an, aber das ist die Überraschung: Die Melodik schwingt weit und, bei aller Kleinteiligkeit, geradezu monumental oder lyrisch aus. Die raffinierten Verzierungen ersticken nicht, sondern profilieren. Wie ist das möglich?

Borgstede, seiner Website nach sowohl Nahostkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als auch Suppenfan (Rezepte!), benutzt den klangvollen Nachbau eines Ruckers-Cembalo von 1638 (Titus Crijnen 1998), ein zweimanualiges Instrument (zwei 8’, ein 4’, F-f’’’). Sein englischer Begleittext ist sparsam, aber punktgenau, wenn er einige der oft rätselhaften Titel erläutert. Couperins Stücke formulieren Hörbilder, ob es sich nun um Anspielungen auf Personen, Szenen oder Ideen handelt. Beispiele: „Les Pélerines“ – Pilger, die sich nach Kythera einschiffen; „Les timbres“ – Glockenläuten; das amouröse „Le rossignol“ oder „Les tambourines“, die sich, wie viele andere Titel, selbst erläutern. Sicher verdunkelt sich das satirisch-elegante Genie Couperins in den letzten Lebensjahren, funkelt aber auch in den dunkler timbrierten späten Suiten auf („Les Ombres errantes“ in der 25. Suite). Insgesamt: Erkundungen der Klaviatur, die natürlich spätere Kollegen (Brahms als erster neuzeitlicher Editor, Debussy, Ravel und Strauß) gereizt haben, denn ein bißchen geht es hier um „Musik für Musiker“, die man unter den eigenen Fingerspitzen fühlen muss. Wer hört, erkundet eine musikalische 1001e Nacht, eine pianistische „Comédie humaine“, die so ganz anders ist als die gelehrte Welt der „Clavierübungen“ des Couperin-Zeitgenossen Bach.

Borgstede versammelt alle 27 Suiten. Er agiert lustvoll agogisch und riskiert viel „persönliche“ Farbe („La Convalescente“: 26eme Ordre), die aber auch durchaus gefordert ist. Wäre historisierende Ausdrucksaskese etwa „authentischer“? Mich hat er nicht nur überzeugt, sondern fast süchtig gemacht – gut, dass es 11 CDs sind... Das Klangbild ist präsent und natürlich. Das Booklet enthält, wie gesagt, einen fundierten Einführungsessay Borgstedes. Wer beim oder nach dem Hören mehr wissen will, muss halt selbst sehen. Im Repertoire gibt es wohl zu dieser Aufnahme keine Alternative. Gäbe es sie, so wäre ihr Wert dennoch nicht angetastet, da bin ich mir sicher.



Peter Hofmann



Trackliste
CD 1-3: Premier Livre
CD 4-6: Second Livre
CD 7-9: Troisième Livre (bis Tr. 5)
CD 9-11: Quatrième Livre (ab Tr. 6)
Besetzung

Michael Borgstede - zweimanualiges Clavecin


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