Musik an sich


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Vivaldi, A. (Fasolis)

Farnace


Info
Musikrichtung: Barockoper

VÖ: 9.9.2011

(Virgin Classics / EMI / 3 CDs / DDD / 2010 / Best. Nr. 50999 0709142 1)

Gesamtspielzeit: 182:00

Internet:

Max Emanuel Cencic



VIVALDIS LIEBLINGSOPER

Unter den eigenen Bühnenwerken schätzte Antonio Vivaldi seinen "Farnace" besonders. Es verwundert daher kaum, dass er in dem Bemühen, das ihm wenig gewogene Ferrara musikalisch zu erobern, noch 1738 auf das bereits elf Jahre zuvor in Venedig mit großem Erfolg uraufgeführte Stück zurückgriff. Jedoch unterzog er es, wie schon für die Aufführung in anderen Städten, noch einmal einer gründlichen, fast schon detailversessenen Überarbeitung. Diese galt nicht allein den Rezitativen, die hier sehr stringent und pointiert wirken, sondern auch nahezu alle Arien, die teils ausgetauscht, teils im Satz grundlegend verändert wurden. Einige schuf Vivaldi gänzlich neu.
Unglücklicherweise fehlt im Autograph zur Aufführung in Ferrara der dritte Akt. Hier galt es also zu rekonstruieren. Dirigent Diego Fasolis und Vivaldi-Experte Frédéric Delaméa haben dazu weitgehend auf das Manuskript einer früheren Fassung zurückgegriffen, die Vivaldi 1731 für Pavia einrichtet. Die Arien wurden entsprechend der abweichenden Sängerbesetzung transponiert. Allerdings haben beide sich gewisse Freiheiten erlaubt, eine Arie anderweitig ersetzt und zudem im ersten Akt eine andere eingefügt, die in Ferrara nicht zur Aufführung vorgesehen war, aber in der Partitur für Pavia enthalten ist. Einmal mehr also eine musikhistorische Bastelarbeit, deren spekulativer Anteil indes denkbar gering ist und die sich musikalisch durchweg als stimmig erweist.

Die Vivaldi-Fans dürfen sich zudem darüber freuen, nicht länger auf die aus dem Jahre 2001 stammende, vom Label naive zuletzt noch einmal neu aufgelegte Einspielung des "Farnace" unter Jordi Savall zurückgreifen zu müssen. Zwar verfügte auch dieser über eine renommierte Sängerriege, jener Live-Mitschnitt ist aber vor allem klangtechnisch alles andere als befriedigend. Die neue Studio-Produktion (in unseren Tagen wegen des damit verbundenen Aufwand ja eher eine Seltenheit) beeindruckt hingegen durch ein extrem präsentes, räumlich ausdifferenziertes Klangbild.
Beim Orchesterzugriff fällt auf, dass Diego Fasolis keinen schematisch durchlaufenden Ansatz wählt, sondern mal energisch zupackend, dann wieder leicht federnd spielen lässt. Gerade diese Vielseitigkeit macht die Aufnahme zu einem Hörvergnügen.
Im Mittelpunkt der Solisten steht Countertenor Max Emanuel Cencic, der die Titelpartie übernommen hat. Er ist fraglos auf dem Höhepunkt seiner Kunst: Seine Stimme verfügt gleichermaßen über Volumen wie über Beweglichkeit, ist frei von allen säuerlichen Eintrübungen wie sie in diesem Stimmfach allzu häufig anzutreffen sind. Vor allem aber hebt er sich von den meisten seiner Kollegen durch eine profunde Tiefe ab, die es ihm ermöglicht, den Titelhelden überzeugend und menschlich vielschichtig zu verkörpern. Die Höhe ist von faszinierender Klarheit und lässt beispielsweise die Arie "Perdona, o figlio amor" zu einem Genuß werden. Welch breite Palette an Klangfarben und Ausdrucksmitteln Cencic zu Gebote steht, lässt sich jedoch exemplarisch am besten im 2. Akt ermessen: Den Trauergesang um den vermeintlich getöten Sohn ("Perdona, o figlio amato") gestaltet der Countertenor nicht weniger überzeugend als die zornige Arie "Gemo in un punto e fremo".
Hinsichtlich der weiteren Rollen stellt die 1738er-Version des Farnace vor allem deshalb eine Herausforderung dar, weil sie drei Mezzo-Stimmen verlangt. Fasolis hat hier außerordentlich geschickt ausgewählt und dafür gesorgt, dass die Partien von drei Sängerinnen mit deutlich unterschiedlichem Timbre versehen werden. Neben der bewährten Ann Hallenberg, die mit einer dunklen Grundfarbe der Figur der Selinda geradezu körperliche Präsenz verleiht, dürfen sich die jungen Mezzokolleginnen Ruxandra Donose und Marx Ellen Nesi beweisen, was Nesi besser gelingt als der etwas eindimensional tönenden Donose. Brillant wie schon in der naive-Produktion des "Tito Manlio" (2005) zeigt sich Karina Gauvin, deren Vortrag feinnervig ausdifferenziert ist, mal glutvoll leidenschaftlich, mal zart schwebend und selbst in den schwierigsten Koloraturen noch ausgewogen - ohne Zweifel eine der besten Sopranistinnen, die derzeit für Vivaldis Vokalwerke zu finden ist.
Tenor Daniel Behle verblüfft einmal mehr durch große Wandlungsfähigkeit und zeigt, dass er bei Vivaldi nicht weniger zuhause ist, als in Mozarts "Zauberflöte" und dem romantischen Liedgesang. Sein Stimmkollege Emiliano Gonzalez Toro erweist sich, zumal in der berühmten Arie "Alle minacce di fiera belva", als außerordentlich stimmgewaltiger, soldatisch auftrumpfender Präfekt Aquilio.

Ein Vivaldi der Extra-Klasse!



Sven Kerkhoff



Besetzung

Max Emanuel Cencic: Countertenor (Farnace)
Ruxandra Donose: Mezzosopran (Tamiri)
Mary Ellen Nesi: Mezzosopran (Berenice)
Ann Hallenberg: Mezzosopran (Selinda)
Karina Gauvin: Sopran (Gilade)
Daniel Behle: Pompeo (Tenor)
Emiliano Gonzalez Toro: Aquilio (Tenor)

Coro della Radiotelevisione svizzera

I Barrochisti

Diego Fasolis: Ltg.


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