Musik an sich


Reviews
Händel, G. F. (Minkowski)

Alcina (DVD)


Info
Musikrichtung: Barockoper

VÖ: 12.9.2011

(Arthaus / Naxos / 2 DVDs / 2010, live / Best. Nr. 101 571)

Gesamtspielzeit: 226:00



GESCHAFFT

Jetzt ist die Barockoper wohl endgülig im Repertoire-Mainstream angekommen: Was könnte dies nachhaltiger indizieren als der Umstand, dass 2010 zum ersten Mal seit fünzig Jahren eine solche in der Wiener Staatsoper über die Bühne ging? Zuletzt hatte Maestro Karajan es in den 60er Jahren gewagt, das als extrem konseravtiv geltende Staatsopernpublikum (das inzwischen größtenteils aus Touristen besteht) für ein Bühnenwerk aus jener Zeit zu begeistern. Damals probierte man es mit Monteverdis Poppea und ähnlich risikoarm stieg man fünf Jahrzehnte später wieder bei dem Thema ein - Händels "Alcina" ist ja, mittlerweile ohnehin, selbst für eingefleischte Mozartianer leicht zu goutieren. Und für den Orchesterpart sicherte man sich lieber die Spezialisten, ließ also nicht das Hausorchester, sondern Les Musiciens du Louvre unter Leitung des Alte-Musik-Experten Marc Minkowski aufspielen.
Sein Zugriff auf Händels Musik ist zwar noch nicht altersmüde geworden, doch die Ecken und Kanten, die Minkowskis frühen Händel kennzeichneten, haben sich dann doch zugunsten von Eleganz und Geschmeidigkeit abgeschliffen - höchst lebendig bleibt die Musik dabei aber immer noch. Regisseur Adrian Noble hat die Handlung als Stück im Stück angelegt, sich aber ansonsten sehr zurückgehalten und eine kreuzbrave Inszenierung hingelegt, ganz nach dem Geschmack der Wiener: Die britische Herzogin Georgina Cavendish inszeniert mit ihren Freunden ein Theaterfest, bei dem sie natürlich gleich selbst in die Hauptrolle schlüpft. So bricht die Zauberwelt der Magierin Alcina als eine Art Guckkastenbühne in den noblen Salon des frühen 19. Jahrhunderts ein - mit blauem Himmel und grünem Gras in so übersteuerten Farben, wie man sie vom Windows Desktop kennt. Die Rahmenhandlung wird durch stumme Zuschauer auf der Bühne sowie dadurch präsent gehalten, dass die jeweiligen Solo-Instrumentalisten bei den entsprechenden Arien ebenfalls in Gestalt von Hausmusikern der Herzogin auf die Bühne kommen. Kein neuer Einfall, aber einer, der dafür sorgt, dass das musikalische Zusammenspiel eine für die Opernbühne ungewohnte Intimität und teils kammermusikalische Züge annimmt.
Das fügt sich sehr gut zu Händels psychologisch feinsinniger Figuren- und Affektzeichnung. Allerdings führen all diese Elemente auch dazu, dass der Aktionsradius für die Sänger und erst recht für die Tänzer (teils groteske Choreographie der Balletteinlagen: Sue Lefton) sehr begrenzt ist. Diese begrenzte Beweglichkeit führt dazu, dass der Großteil der Arien dann eben doch "an der Rampe" gesungen werden muss, was auf die Dauer ziemlich statisch wirkt.

Als in jeder Hinsicht be- und verzaubernd erweist sich Anja Harteros in der Titelrolle: Sie gibt die Zauberin stimmlich bis ins kleinste Detial perfekt und zugleich darstellerisch überzeugend. Zum Höhepunkt wird dabei ihre Arie "Ah! mio cor", in der Verzweiflung über die schwindende Zaubermacht, die verratene Liebe, aber auch der Wunsch nach Rache so nahe beieinander liegen. Als Ruggiero meistert die Mezzosopranistin Vesselina Kassarova, die sich mittlerweile weit ins Barockfach vorgearbeitet hat, die Koloraturen tadellos, doch bleiben ihr gutturaler Stimmansatz und die meist sehr eng geführt Intonation problematisch.
Alcinas kleine Schwester Morgane wird von Veronica Cangemi gesungen, die bei ihrem ersten Auftritt noch etwas flackrig-hysterisch tönt, bald aber zur gewohnten Souveränitat und Nuancierungskunst zurückfindet. Kristina Hammarströms Bradamante ist solide zu nennen, obschon die Schwedin stimmlich etwas erschöpft wirkt. Eine ganz erstaunliche Leistung bietet der 15jährige Sängerknabe Alois Mühlbacher, der die Rolle des Oberto übernommen hat und in geradezu anrührender Perfektion mit seinen erwachsenen Mitstreitern konkurriert - und das mit einem überraschenden Maß an Geläufigkeit und Ausdrucksstärke.

Das Wiener Publikum zeigt sich bei diesem Live-Mitschnitt, bei dem die Bühnengeräusche nicht unbedingt diskret ausfallen, beigeisterungsfähig und bejubelt jeder Arie, wie auch die Aufführung insgesamt - und das zumindest überwiegend auch ganz zu recht.



Sven Kerkhoff



Trackliste
Aufführungsdauer: 205 Minuten
Bonusmaterial (Behind the Scenes, Interviews): 21 Minuten
Besetzung

Anja Harteros: Alcina
Vesselina Kassarova: Ruggiero
Veronica Cangemi: Morgana
Kristina Hammarström: Bradamante
Alois Mühlbacher (St. Florianer Sängerknabe): Oberto
Benjamin Bruns: Oronte
Adam Plachetka: Melisso

Les Musiciens du Louvre - Grenoble
Wiener Staatsballett

Marc Minkowski: Ltg

Adrian Noble: Regie


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