Musik an sich


Reviews
ROKOKO-PASSIONEN
Luigi Boccherini (1743-1805): Stabat Mater
und: Streichquintette op. 42, 1 u. 2

Sony Music CD DDD (AD 2002) / Best. Nr. SK 89926
Barock / Vokal
Cover
Interpreten:
Roberta Invernizzi (Sopran) L'Archibudelli

Interpretation: +++++
Klang: +++++
Edition: ++++


ZWISCHEN PATHOS UND EMPFINDSAMKEIT

Schaut man sich das Cover dieser Einspielung an, dann bekommt man bereits einen visuellen Vorgeschmack auf die religiöse Gefühlswelt, in der (und für die) Luigi Boccherini 1781 sein Stabat Mater komponierte. Zwar ist die abgebildete Pieta von Giovanni Battista Gaulli (1639-1709) rund hundert Jahr vor Boccherinis Marienklage entstanden. Doch was den Empfindungsgehalt angeht, entsprechen sich Malerei und Musik in bemerkenswerter Weise: In vollendeter, um nicht zu sagen sinnlicher Leiblichkeit ergießt sich der tote Christus förmlich in den Schoß Mariens. Deren Trauer wird von Gaulli mit delikater Diskretion behandelt. Mehr als das verinnerlichte Minenspiel spricht der lebhafte Faltenwurf des Gewandes vom bewegten Schmerz der Mutter. Vorbei an Schleier und Tränentuch geht der Betrachterblick auf ein noch im Leiden schönes Frauengesicht. Die hingebungsvoll geöffnete rechte Hand signalisiert Einstimmung in den göttlichen Willen. Mag man als moderner Betrachter bis hierher noch folgen so irritieren spätestens jetzt die pausbäckigen Putti zur Linken. Wird da nicht die Kreuzigung verniedlicht? Und überhaupt durch eine Ästhetik der Schönen kaschiert? Ist das Thema gar nur noch ein Anlass für die Darstellung (halb)nackter, erotischer Körper?
Doch alle Elemente, selbst die Putten, dienten dem zeitgenössischen barocken Betrachter sozusagen als Affektbrücken. Das Ziel waren nicht Schock oder Ekel angesichts der grausamen Abschlachtung Jesu am Kreuz, sondern die andachtsvolle Betrachtung und mitleidvolle Einfühlung in den Passionsschmerz des Gottessohnes, vermittelt durch das Leiden der Gottesmutter. Und gerade weil nicht der Tod, sondern die Auferstehung das letzte Wort behalten wird, hat der Künstler schon jetzt allen Erdenschmerz verklärt. So erscheint im toten Christus schon der verherrlichte und auferstandene Christus.

BOCCHERINIS MARIENKLAGE

Geanau das leistet auch Boccherinis musikalische Marienklage: Sie ist eine in ihren sanften Lamento-Affekten ebenso subtil wie elegant ausbalancierte Andachtsmusik. Statt drastischer Entäußerungen heftigen Schmerzes bietet der Komponist einen ergreifenden Klagegesang, der die Szene - Maria unter dem Kreuz - in ein ebenso verklärendes, schimmerndes Licht taucht, wie Gaulli seine Pieta. Am Ende scheint die Singstimme mit dem begleitenden Instrumentarium geradezu davonzuschweben.
Dabei hat Boccherinis Lyrismus in dem barocken Hit schlechthin, Giovanni Battista Pergolesis (1710-1736) Stabat Mater, unüberhörbar sein Vorbild. Der Erfolg von Pergolesis Komposition war so groß, dass selbst Bach in Leipzig eine Aufführung initierte, allerdings mit verändertem deutschen, protestantischen Text. Bei Boccherini klingt in der Betonung des Melodischen, den elegischen Seufzerfiguren und weich schwingenden Bögen Pergolesis Meisterwerk mehr als einmal an (das dann auch nicht wirklich überboten wird). Doch schon die ersten Takte zeigen, dass die spätbarocke Affektsprache in punkto Harmonik und Stimmführung von Boccherini in die klassische Musiksprache verwandelt wurde. Hört man dann noch die als umfangreiche Zugabe gebotenen zwei Streichquintette op. 42, dann wird vollendes deutlich, wie sehr dieses Stabat Mater Boccherinis eigene, originelle Schöpfung ist. Um diese Instrumentalmusik, die mitunter so beiläufig und leicht daherkommt, genießen zu können, bedarf es beim Hörer schon einer eher kontemplativen Stimmung. Das vermeintlich so frivole Rokoko wird von den Musikern in herbstliches Licht getaucht ...

KONGENIALE INTERPRETATION

Nachdem Sony die Veröffentlichung dieser Aufnahme ein ums andere Mal verschoben hatte, ist es um so erfreulicher, dass sie nun doch noch erschienen ist. Boccherinis geistliche Werke sind nach wie vor unterrepräsentiert, und dass sein Stabat Mater hier in der lange verschollenen Urfassung für Sopran und Streichquintett erklingt, ist ein zusätzlicher Gewinn. Gegenüber der Fassung für drei Sänger/innen und Orchester wird der intime religiöse Charakter der Musik betont. Dies ist Musik, die man am besten ganz für sich alleine hört.
Roberta Invernizzi mit ihrem glockenreinen, agilen und wunderbar schattierten Sopran und L'Archibudelli mit ihren darmbesaiteten Instrumenten erweisen der feinsinnigen Musik Bocchernis denn auch den denkbar besten Dienst: Die Charaktere der einzelnen Sätze werden dabei in stimmige Spannungs-Relationen gebracht, opernhafte Figuren und liedhaft-schlichte Wendungen bilden ein überzeugenes Ganzes. Invernizzis Sopran verschmilzt vollkommen mit den warmen, farbigen Streichenklängen der fünf L'Archebudellis. Zusammen musizieren sie mit einer wunderbar konzentrierten Ruhe, die nichts forcieret, sondern sich ganz der Andachtshaltung der Musik ergibt. Und wenn sich Invernizzis Stimme am Ende in immer lichtere, unkörperliche Sphären erhebt, sollte selbst der unsensibelste Hörer ergriffen verstummen.
Aber wie gesagt: Diese Musik bedarf des gesammelten, auch des wiederholten Zuhörens, um all ihrer Schönheiten gewahr zu werden.

16 Punkte

Georg Henkel

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