Musik an sich


Reviews
Stravinsky, I. (Reuss)

Les Noces / Missa / Cantate


Info
Musikrichtung: Ballett

VÖ: 13.06.2006

Harmonia Mundi / Helikon
SACD DDD (AD 2005) / Best. Nr. HMC 801913




MEISTERLICHES VOM STIL-CHAMÄLEON

Igor Stravinsky, das Stil-Chamäleon. Aber egal, von welchem musikalischen Dialekt der russische Komponist jeweils Gebrauch machte, es klingt doch immer nach ihm selbst. Die in der Musikgeschichte vorgefundenen altmeisterlichen Modelle ersetzten keinesfalls die persönliche Inspiration. Leider hat der Gebrauch dieser Modelle beim ‚informierten’ Hörer allzu oft den unbefangenen Blick auf die Originalität von Stravinskys Musik verstellt. Dass seine Cantate von 1952 ein serielles 12-Ton-Werk ist – nun gut, ich hab’s nicht gehört. So betörend lyrisch, harmonisch flüssig und im melodischen Verlauf geradezu belcantisch klingt das selten interpretierte Werk in der Neueinspielung des RIAS Kammerchor, der musikFabrik und den Solisten Carolyn Sampson und Jan Kobow unter Daniel Reuss. Ich musste, vielleicht auch wegen des englischen Librettos, eher an Benjamin Britten denken.
In ihrer manchmal geradezu hypnotisierend ruhigen Grundhaltung steht die Cantate der vier Jahr ältere Messe nahe. Das knappe, sparsam mit Chor und einem Bläserensemble besetzte Werk ist ein Versuch, in kritischer Auseinandersetzung mit Mozarts Kirchenmusik eine ernsthafte liturgische Musik ohne Rokoko-Allüren zu schreiben. Auch hier hört man den „Sammler“ heraus: Machaut und Palestrina (und, trotz allem, auch Mozart!) – aber sehr verfremdet, mit atonalem Akzent. Die unwirklichen harmonischen Farben sind ausgeblichen und gebrochen, nur gelegentlich leuchten sie aus dem choralartigen Satz klar heraus. Auch Gregorianik und Ostkirchliches klingen an, ohne dass sie direkt als Zitat greifbar wären. Allenthalben gibt es Ecken und Kanten, überraschende Wendungen. Der RIAS-Chor glänzt durch unangestrengte Tongebung und lupenreine Intonation.

Der Höhepunkt dieser Produktion erklingt aber gleich zu Anfang: das vor Vitalität strotzende Ballett Les Noces für Chor, Solisten und einem Ensemble aus vier Klavieren und umfangreichem Schlagzeug aus dem Jahre 1924. Vor einiger Zeit ist dieses ebenfalls selten zu hörende Opus in der Interpretation von Robert Craft bei Naxos wiederveröffentlicht worden (Rezension. Nicht nur tontechnisch, auch interpretatorisch ist die aktuelle Fassung der älteren überlegen. Der rhythmische Drive dieser Musik – das rund 25-minütige Werk ist nahezu durchgängig von einem einzigen kraftvollen Puls durchzogen – wird von den Ausführenden mit unwiderstehlicher Energie dargeboten. Ritualhaft wild und ekstatisch klingt auch die Craft-Version, aber Reuss’ Musiker werfen sich mit noch größerer Präzision und noch größerer Lust am Getümmel ins Geschehen. Die Musik erinnert stellenweise an Carl Orff (den Komponisten der Cattuli Carmina und des Trionfo di Aphrodite), ist aber sehr viel perspektivreicher und zukunftsträchtiger. Ein zu unrecht vernachlässigtes Hauptwerk des Komponisten, dem diese Einspielung vielleicht endlich einmal wieder den Weg zurück auf die Bühne ebnet.

Diese Produktion ist in jeder Beziehung beispielhaft: unverbrauchtes Repertoire, kompetente und inspirierte Interpretation, guter Klang und ein umfangreiches mehrsprachiges Beiheft mit sehr guten Einführungen. Eine preisverdächtige Rehabilitierung des oft ignorierten „späten“ Stravinsky.



Georg Henkel



Trackliste
101-04 Les Noces
205-09 Messe
310-16 Cantate
Besetzung

Carolyn Sampson
Susan Perry
Ysevolod Grivnov
Maxim Mikhailov
Jan Kobow

RIAS-Kammerchor
musikFabrik

Ltg. Daniel Reuss




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