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FAVORITENSTURZ: RATTLES "FIDELIO"
Ludwig van Beethoven (1770-1827): Fidelio

EMI CLASSICS 2 CD DDD (AD 2003, live) / Best. Nr. 7243 5 57559 2 6
Klassik-Romantik / Oper
Cover
Interpreten:
Angela Denoke (Leonore), Jon Villars (Florestand), Alan Held (Don Pizarro), Laszlo Polgar (Rocco), Juliane Banse (Marzelline), Rainer Trost (Jaquino), Thomas Quasthoff (Don Fernando)
Arnold Schoenberg Chor
Berliner Phliharmoniker
Sir Simon Rattle

Interpretation: ++
Klang: ++
Edition: ++++


DER SUPERSTAR

Simon Rattle, soll, so wohl der Plan der Musikindustrie, zu Deutschlands neuem Superstar von Weltklasseformat unter den Dirigenten aufgebaut werden, gewissermaßen zum Karajan unserer Zeit - also eine sichere Bank bei jeder Neuveröffentlichung.
Dass aber die Superstars meist nur altbekanntes Material wieder aufwärmen, ist aus den einschlägigen TV-Shows bestens bekannt. Diesen Vorwurf kann man Rattle nun nicht machen, liegt seiner Fidelio-Interpretation doch erstmals die neue Bärenreiter Edition der Oper zugrunde, die behutsam und akribisch zugleich neueste wissenschaftliche Erkenntnisse über die Entstehungsgeschichte des Werkes, samt seiner vielen Be- und Überarbeitungen durch den Komponisten berücksichtigt.
Bedauerlich ist aber - und insofern handelt es sich dann doch um ein "aufgewärmtes Essen" -, dass Rattle diese Neudedition nicht nutzt, um auch dem Hörer neue, packende Perspektiven zu bieten. Hierzu ist sein Zugriff zu halbherzig und zu sehr in jener Tradition verhaftet, die unter musikalischer Romantik vor allem endlose Legatobögen verstand. Schon die ersten Takte der Ouvertüre machen das deutlich: Der Mut zum klaren Absetzen und Phrasieren scheint nicht vorhanden zu sein. Zwar kommt hier und da ein rebellischer Ansatz zum Vorschein, wenn etwa der Dirigent hier und da ein Ritardando einschiebt, so dass das Taktmaß fast zu kippen droht. Doch wirkliche Akzentsetzung und Dramatik fehlen allenthalben. Während im ersten Teil mit seinen deutlichen Anklängen an das ältere, leichtgewichtigere deutsche "Singspiel" das spielerische Element fast gar nicht zu spüren ist, sondern selbst Roccos launige "Gold-Arie" bedeutungsschwer daherkommt, ist vom Überschwang der Gefühle, von Mordlust, Todesangst, Liebe im zweiten Teil kaum mehr zu vernehmen. Kein menschliches Drama wird hier dargeboten, sondern nur abstrakte Betrachtung ethischer Prinzipien.


SOLIDE SÄNGERRIEGE OHNE KLUGE FÜHRUNG

Diese Unentschlossenheit wirkt sich auch bei der sängerischen Leistung aus: Man merkt, dass bei dieser konzertanten Aufführung, um deren Live-Mitschnitt es sich handelt, kein Funke der Begeisterung überspringen wollte. Am ehesten ragen noch Angela Denoke als Leonore, sowie Juliane Banse und Rainer Trost als Marzelline und Jaquino heraus. Das Eingangsduett der Letztgenannten wird tatsächlich zu einem launigen, munteren Spiel.
Alan Held nimmt man hingegen den grundbösen Don Pizarro nicht ab: Wenn er den ihm vor Augen stehenden Triumph, die Ermordung Florestans, besingt, wird die teuflische Freude am hinterhältigen Plan weder hör-, noch spürbar. In der Rolle Florestans geht auch Jon Villars seinerseits nicht ganz auf, wirkt er doch eher kraftlos. Und von Laszlo Polgar wissen wir seit der Fidelio-Einspielung unter Harnoncourt (Teldec 1995), dass er den Rocco besser verkörpern und gestalten kann, als er es hier tut. Thomas Quasthoffs kurzer Auftritt als Don Fernando gibt dem Bariton wenig Gelegenheit, zu glänzen, doch löst er seine Aufgabe souverän und solide.


GRUND ZUR FREUDE GIBT NUR DER CHOR

Von der etwas müden Grundstimmung hat sich der Arnold Schoenberg Chor allerdings nicht anstecken lassen. Er präsentiert die Chorszenen scharf konturiert, durchhörbar und mit großer Ausdrucksstärke. Auf den romantischen Weichzeichner-Chorsound wurde hier dankenswerterweise verzichtet.
Demgegenüber legen die Berliner Philharmoniker einmal mehr ihr altbekanntes, altbewährtes, stark streicherorientiertes Spiel an den Tag und zeigen, dass man auch heute noch von den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis unbeeindruckt bleiben kann.


FLACHER KLANG

Da also die Interpretation insgesamt der Vielzahl von Fidelio-Einspielungen nichts wesentlich neues hinzuzufügen weiß, hätte man zumindest erwarten können, dass, um die Neuedition des Werks adäquat zu präsentieren, das Bemühen um eine exzellente Klangqualität erkennbar werden würde. Doch weit gefehlt: Der Live-Mitschnitte aus der Berliner Philharmonie ist geprägt von einem außergewöhlich flachen, teils sogar dumpfen und undifferenzierten Klangbild, das Streicher und Solisten begünstigt, den Rest der Mitwirkenden aber zu Randfiguren macht.


13 Punkte

Sven Kerkhoff

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