Musik an sich


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NEUE MUSIK DES MITTELALTERS:
Anonym (14./15. Jhd.): Messe de Tournai und Lukas-Passion

Naxos DDD (AD 2001) / Best.Nr. 8.555861
Mittelalter / Vokal
Cover
Interpreten:
Tonus Peregrinus
Ltg. Antony Pitts

Interpretation: ++++
Klang: ++++
Edition: ++++

ARCHÄOLOGIE DER MUSIK

Es gibt für alles ein erstes Mal. Auch für die Mehrstimmigkeit in der Musik.
Hören wir heute die "Missa Solemnis" von Beethoven, so nehmen wir diese hochkomplexe, wahrlich überwältigende Verschmelzung vokaler und instrumentaler Stimmen meistens so selbstverständlich hin, als sei sie direkt vom Himmel auf die Notenpulte gefallen. Das hat Herr Beethoven eben so komponiert. Klar, davor gab es Oratorien und Messen von Haydn und Mozart, auch wenn die sich noch etwas anders anhören. Beethoven konnte also schon auf eine Tradition zurückgreifen und diese weiterentwickeln. Und davor? Johann Sebastian Bach. Barocke Kantaten. Aber auch ein Werk wie die H-Moll-Messe. Klingt auch wieder anders als Beethoven, eben barock (was immer das heißen mag). Und davor? Die Renaissance-Polyphonie, der Höhepunkt spätmittelalterlicher Mehrstimmigkeit (wie man immer wieder lesen kann). Hat nun wirklich nicht mehr viel mit Beethoven zu tun. Und davor?

Man könnte das platte Spielchen weitertreiben und bis zur einstimmigen Gregorianik zurückfragen. Irgendwo zwischen den frühchristlichen Gesängen und Beethovens monumentaler Missa muss es dann aber wohl passiert sein: Da ist zu der einen Stimme eine zweite, dritte, vierte ... dazugekommen. Wahrscheinlich wurde schon bei den Choralmelodien der spätantiken altrömischen Kirche ein Bordun, also ein langausgehaltener Basston, hinzuimprovisiert. Schließlich gesellten sich zur Hauptstimme Oktav- und Quintparallelen. Aus anfänglichen Improvisationen wurden Traditionen und schließlich feste Regeln für die Stimmführung. In dem Maße, wie sich die Prozedur verkomplizierte, bedurfte es einer immer genaueren Notation. Die ältesten notierten mehrstimmigen Kompositionen stammen vom Ende des 12. Jahrhunderts. Zwei Namen sind bekannt (hinter denen sich aber auch mehrere Personen verbergen können, das Mittelalter dachte noch nicht so "individuell"): Magister Leoninus und Magister Perotinus Magnus. Mit den sogenannten "Organa" der Notre-Dame-Schule von Paris hatte die abendländische Musikgeschichte ihren ersten Zenit erreicht. (Wer sich dafür genauer interessiert: Eine faszinierende Aufnahme dieser Musik, die frappierend an moderne Minimal-Music erinnert, ist beim Münchener Label ECM in der Reihe NEW SERIES erschienen).

MESSE UND PASSION

Die älteste erhaltene mehrstimmige Vertonung des Messordinariums, also der unveränderlichen Gesänge der Messe (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei und Ite missa est) stammt aus dem 14. Jahrhundert. Benannt ist sie nach der Herkunft des Manuskripts aus dem belgischen Tournai. Durchgängig dreistimmig gesetzt, bietet sie zugleich einen Querschnitt durch die damals bekannten Stile: von Ferne klingen die Organa Perotins an, wobei die mitunter komplexe Rhythmik auffällt. Insbesondere das großdimensionierte, sich in endlosen Melismen fortspinnende "Amen" im Gloria gibt sich im Sinne des 14. Jahrhunderts sehr avanciert. Anderes ist eher "choralartig" gearbeitet. Die archaische, modale Harmonik klingt für zeitgenössische Ohren zunächst abstrakt und ausgesprochen exotisch, ist aber alles andere als ausdruckslos. Wie dieser Ausdruck akzentuiert wird, hängt aber nicht zuletzt von den Interpreten ab. Die müssen sich außerdem noch über eine Reihe von Details einige werden, die sich nicht aus dem überlieferten Notentext ermitteln lassen (z. B. wo Vorzeichen angebracht werden müssen, um die Regeln der Stimmführung nicht zu verletzten).

Das Gegenstück zur Messe, eine mehrstimmige Passion nach Lukas, stammt aus England des 15. Jahrhunderts, wo sie wahrscheinlich für die St. George's Chapel in Windsor komponiert bzw. zusammengestellt wurde. Hier überwiegen, dem Stoff entsprechend, einstimmige Gesänge (Evangelist, Jesus), in die dann kurze Chorpassagen, z. B. für die Äußerungen der Volksmenge, eingeschaltet sind. Die Messe ist naturgegeben musikalisch dichter als die über weite Strecken solistische Passion. In der volltönenden Terzen- und Sextenseligkeit der Chöre bzw. Ensemble ist allerdings der typsiche, "weiche" Klang englischer Musik des Mittelalters unüberhörbar.

GELUNGENE INTERRETATIONEN

Die (immer auch hypothetische) Wiederbelebung dieser fernen Klangwelten durch das gemischte britische Ensemble Tonus Peregrinus überzeugt: Die Klangfarben der Männer- und Frauenstimmen werden ebenso wie die sorgsam abgestufte Dynamik in den Dienst lebendiger musikalischer "Dramatik" bzw. musikalischen Ausdrucks gestellt. Während z. B. das französische Ensemble Organum (HMF), das nur mit Männerstimmen besetzt ist, sehr viel kantiger und "starrer" deklamiert, gewinnt die Musik hier durch den weicheren, in der Höhe auch leuchtenderen Klang, eine entspannte Tongebung und geschmeidige Phrasierung eine besondere Eleganz. Durch die französische bzw. englische Aussprache des Lateinischen betont Tonus Peregrinus überdies die unterschiedliche Herkunft (und Ästhetik) der beiden Werke. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Messe das musikalisch reichere, sicherlich auch interessantere Werk ist. Die Passion mit ihren langen, litaneiartigen Solopassagen nimmt sich dagegen schlichter aus. Mehr noch als die "konzertant" dargebotene Messe nimmt man sie als liturgische Andachts-Musik wahr.

15 Punkte

Georg Henkel

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