Musik an sich


Reviews
"SUITES POUR LE CLAVECIN" UND "FAIT POUR LES ANGLOIS": BACHS CEMBALO-SUITEN
Johann Sebastian Bach (1685-1750): Französische Suiten und Englische Suiten für Cembalo (BWV 805-817)

Zig Zag Territories je 2 DDD CD (AD 2001/2002) / Best.Nr. ZZT 020401.2 und 030401.2
Barock / Cembalo
Cover Cover
Interpretin:
Blandine Rannou / Cembalo - zweimanualiges Instrument von Anthony Sidey 1985 nach Ruckers-Hemsch (1636-1763)

Interpretation: +++++
Klang: +++++
Edition:++++

BACH ALS PÄDAGOGE

"Auffrichtige Anleitung. Wormit denen liebhabern des Claviers, besonders aber denen Lehrbegierigen, eine deutliche Art gezeiget wird, nicht alleine 1) mit 2 Stimmen reine spielen zu lernen, sondern auch bey weiteren Progressen 2) mit dreyen obligaten Partien richtig und wohl zu verfahren, anbey auch noch zugleich gute inventiones nicht alleine zu bekommen, sondern auch selbige wohl durchzuführen, am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen zu erlangen, und darneben einen starcken Vorschmack von der Composition zu bekommen."

Für seine Schüler hat Bach eine Reihe von Stücken komponiert, mit denen diese nicht nur ihre technischen Fertigkeiten auf dem Clavier - zu Bachs Zeit fasste man darunter alle Tasteninstrumente vom Cembalo über das Clavichord bis zur Orgel zusammen - sondern auch ihr kompositorisches Handwerk perfektionieren sollten: Bach, der Pädagoge und Forscher in "musikalischen Wissenschaften", hat auch hier einmal mehr Maßstäbe gesetzt.
Zu den bekanntesten "Etüden" gehören die zweistimmigen Inventionen und die dreistimmigen Sinfonien (aus denen obiges Vorwort entnommen ist), aber auch Teile des Wohltemperierten Claviers oder, wie Blandine Rannou vermutet, auch noch die Sechs Partiten, zugleich der Gipfelpunkt von Bachs Suitenkompositionen.

MELODIE CONTRA HARMONIE: DIE "FRANZÖSISCHEN" UND DIE "ENGLISCHEN SUITEN"

Suite - das ist eine Folge von Tanzsätzen unterschiedlichen Charakters: Allemande, Courante, Sarabande, Gigue ... Bach handhabte das Basismodell sehr flexibel, erweiterte es durch vorangestellte Praeludien und schob Modetänze wie das Menuett oder die Bourée ein. Außerdem stilisierte er die Tänze so weit, dass sie als solche häufig kaum noch erkennbar sind.

Der Name "Französische Suiten" stammt nicht von Bach, sondern erst aus dem 19. Jahrhundert, von seinem Biographen Philipp Spitta. Mag sein, dass Bachs originale Bezeichnung "suites pour le clavecin" hier Pate stand. Stilistisch sind diese Werke aber alles andere als typisch französisch. Gemeinsam ist allen ihre knappe Ausformulierung und ihr relativ bescheidener klavieristischer Anspruch. Unüberhörbar dominiert der melodische Fluss. Das heißt aber nicht, dass diese Stücke ohne musikalischen Reiz wären, halt nur Notenfutter zu Studienzwecken. Ganz im Gegenteil.
In jeder Hinsicht anspruchsvoller präsentieren sich da schon die Englischen Suiten: virutoser, kontrapunktisch dichter, ausladender, mit Betonung der harmonischen Entwicklung. Verblüffenderweise sind sie in manchen Details sehr viel französischer als ihre Geschwister. Der Name ist auch hier kaum zu erklären. In einer Abschrift der 1. Suite durch einen Bach-Schüler findet sich die Bemerkung "fait pour les anglois" - verfertigt für die Engländer. Das machte Geschichte, verselbständigte sich wie bei den Französischen Suiten ... und hilft dem Hörer heute beim Plattenkauf: "Hätte gerne die Englischen von Bach ..."

BACHS AKTUELLE MEISTERSCHÜLERIN: BLANDINE RANNOU

Ich muss zugeben: So sehr ich das Cembalo schätze, so selten sind mir hier Aufnahmen mit Bachs Werken begegnet, die mich wirklich überzeugen. Manchmal scheint es so, als wenn der Name "Bach" die Interpreten vor lauter Ehrfurcht erstarren lässt. Da muss dann alles sehr gewichtig und diszipliniert klingen, "objektiv", was immer das heißen mag (meistens ist es gleichbedeutend mit langweilig).

Es ist in diesem Fall die junge französische Cembalistin Blandine Rannou, die die Qualitäten und Schönheiten der Bachschen Musik bei beiden Kollektionen einmal wahrhaft berückend Gehör zu bringt. Auf solche Aufnahmen habe ich gewartet, die können es auf ihre Weise durchaus mit den Einspielungen Glenn Goulds aufnehmen. (Diesen abgenutzten Vergleich möge man mir verzeihen, aber wenn man diese Einspielungen einmal im Ohr hat ... Gould hat auf dem Klavier mehr für die Bekanntheit von Bachs herrlicher Musik getan als die meisten der "Authentiker" auf ihrem Cembalo. Nicht, weil seine Einspielungen unfehlbar und unwidersprechbar wären. Da wäre er sicherlich er selbst der erste, der es beim nächsten Mal wieder anders machen würde. Sondern weil Gould Interpretation noch als ein Abenteuer mit offenem Ende betrieben hat und sich diese Risikolust, diese Faszination auf den Hörer überträgt. Aber das ist jetzt ein anderes Thema.)

Dass Rannou ein Instrument französischer Bauart verwendet, ist kein Schaden. Der eher drahtig-silbrige, manchmal auch näselnde Klang deutscher Instrumente hat zwar seinen Reiz. Aber gegen den runden, leuchtenden, in der Tiefe geradezu samtigen Klang von Rannous Hemsch-Ruckers-Kopie, die die jeweils besten Seiten des flämischen und französischen Cembalobaus vereint, kommen sie nicht an. Zumal dieser Klang auch noch sehr voll und präsent eingefangen wurde.
Blandine Rannou zeigt als Meisterin ihrer Kunst - Bach hätte seine Freude an dieser Schülerin gehabt. Sie realisiert alle Parameter der Musik schlechthin ideal: Die kontrapunktische Struktur bringt sie mit großer, aber nicht aufdringlicher Klarheit heraus. Die ruhigen Sätze, besonders die Sarabanden, gewinnen mit ihren weit gespannten Bögen eine ungeahnte Freiheit und Ausdruckstiefe. Nirgendwo irritiert Rannou durch unorganisches, verstolpertes Spiel, mit dem andere versuchen, die dynamischen Grenzen des Cembalos zu kompensieren. Die heikle Gestaltung der musikalischen Linie durch feinste inegale (also ungleichmäßige) Notenwerte und sinnstiftende Phrasierung überzeugt. Heraus kommt genau das, was Bach unter "cantable Art im Spielen" verstand: beredte Sanglichkeit, die die Musik durchhörbar und verstehbar macht. Dabei atmet die Musik auch in virtuosen und schnellen Passagen - und hier macht sich vielleicht Rannous französische Herkunft bemerkbar - Grazie und Delikatesse. Qualitäten, di von den Komponisten und Theoretikern des barocken Frankreichs für die französische Musik des 17. und 18. Jahrhunderts veranschlagt wurden und sich mit Bachs so deutschem Cembalostil bestens verstehen.

Jeweils 18 Punkte

Georg Henkel

Zurück zur Review-Übersicht