Musik an sich


Reviews
Vivier, C. (Simon, K.)

Kopernikus - Opéra-rituel de mort


Info
Musikrichtung: Neue Musik Oper

VÖ: 19.02.2016

(Bastille Musique / Bastille Musique / CD / AD 2015 / DDD / Best. Nr. bm1)

Gesamtspielzeit: 61:45



JENSEITSREISEN EINES AUSSENSEITERS DER NEUEN MUSIK

Der kanadische Komponist Claude Vivier, der 1983 im Alter von 34 in Paris von einem jungen Kriminellen ermordet wurde, den er aus einer Schwulenbar mit nach Hause genommen hatte, gilt als ein "Outcast" der Neuen Musik und zugleich als einer der bedeutendsten kanadischen Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Dabei ist sein schmales Oeuvre trotz der einen oder anderen Konzertaufführung und einer imposanten Doppel-DVD, die einige seiner späten Werke unter dem Titel Reves d'un Marco Polo - The Life & Work of Claude Vivier in exemplarischen Aufführungen bündelt, nach wie vor nicht sonderlich gut bekannt.
Vivier wuchs als Adoptivkind in einem armen, streng katholischen Haushalt auf. Die Identität seiner leiblichen Eltern ist unbekannt. Die Geschichte des verlassenen Kindes, das nicht weiß, woher es stammt, das sich nach Reinheit, Freude und Liebe sehnt, zieht sich durch sein ganzes Werk.

Trefflich hat einst der Komponist György Ligeti die Besonderheiten von Viviers Musik zusammengefasst: "Weder Neo noch Retro ... zugleich völlig außerhalb der Avantgarde ... vielleicht eine Art 'Soft-Stockhausen'". Vivier schrieb vor allem in den Jahren nach 1980, nach seiner Asienreise und Begegnung mit der Spektralen Musik, eine ungemein farbenreiche Musik, genial in der Harmonik und Instrumentation. Sie ist im wesentlichen melodisch, (poly)modal, dabei homophon oder diaphon organisiert. Die Lieblingskinder der Neuen Musik, die überkomplexe Polyphonie und Rhythmik, interessieren Vivier dagegen kaum. Kritisch äußerte sich Ligeti zur Fin de Siècle-Anmutung, zur Jugendstil-Ästhetik, zum Wagnerismus in Viviers Werk; die Homoerotik der Musik, "die ja von großer Schönheit sein kann", berührte ihn fremdartig.
Was ihn hingegen einnahm und die Kritik am "süßen Kitsch" sozusagen neutralisierte, war der Einfluss asiatischer Klangkulturen, durch die Vivier in seiner Musik ein imaginäres Asien entstehen lässt. Und auch wenn Ligeti selbst Pathos und Mystik fremd waren, so erkennt er doch an, dass es sich im Fall von Viviers Musik eben nicht um weihevolle Posen handelt.

Kopernikus

Jüngst ist die Kammeroper Kopernikus - Opéra-rituel de mort aus dem Jahr 1979 in einer Neueispielung auf CD erschienen und hat gleich den Preis der Deutschen Schallplattenkritik gewonnen. Das neugegründete Berliner Label Bastille Musique hat die Interpretation als Nr. 1 veröffentlicht: in einer gehefteten Pappschachtel, in schwarzes Seidenpapier eingschlagen, mit mehrsprachigem Booklet und inklusive zweier Fotoleporellos mit unveröffentlichten Fotos des Komponisten. Es singt und spielt die Opera Factory Freiburg zusammen mit der Holst-Sinfonietta unter der Leitung von Klaus Simon. Klanglich ist die Studioproduktion vorzüglich, gesanglich und instrumental wird die filigrane Partitur herausragend umgesetzt.

Vivier hat eine Art Madrigaloper geschrieben, auf ein eigenes Libretto in französischer und einer Fantasiesprache, die wie ein osteuropäischer Dialekt klingt (Vivier fantasierte, dass seine leibliche Mutter aus Polen stammen könnte und er vielleicht sogar jüdische Wurzeln habe). Der Untertitel "Opern-Ritual des Todes" deutet bereits an, dass es weniger um eine zusammenhängende Geschichte als eine Folge musikalischer und szenischer Rituale geht.
Kopernikus ist ein modernes Mysterienspiel. Vivier, von Haus aus katholisch und für einige Zeit sogar Anwärter einer Ordensgemeinschaft, war sehr religiös, wenngleich nicht auf konfessionelle Weise. Stark beinflusst zeigt er sich in diesem Fall auch von asiatischen Spiritualität, insbesondere vom tibetischen Buddhismus und seinem Totenritual. Exotisches Schlagzeug wie Gongs oder Klangschalen finden sich auch sonst immer wieder in seinen Partituren und gliedern oft die einzelnen Abschnitte.

Kopernikus ist in einem Zwischenreich, einer Art Limbus zwischen der Welt der Lebenden und der Toten angesiedelt. Hier trifft das Mädchen Agni auf eine Reihe von Gestalten aus der Musik- und Mythenwelt seiner Kindheit, die hier als Seelenführer fungieren: Lewis Carroll, den Zauberer Merlin, den Meister des Wassers, die Königin der Nacht, Mozart, Tristan und Isolde ... Sie verstricken Agni in ein vieldeutiges Spiel aus Gesang und Musik, in dem die Identitäten ständig wechseln, Worte mal dieses oder jenes oder gar nichts bedeuteten und trotzdem etwas zum Ausdruck bringen.
Die Musik, oft zartschwebend und lyrisch, dann wieder mit vokalen Grotesken durchsetzt, betört, verführt oder verstört. Eine im wahrsten Sinne unheimliche Schönheit wechselt mit kindlicher Heiterkeit und auch Albernheit ab. Anders tönt geisterhaft, wie während einer Seance eingefangen. Vivier inszeniert ein Ritual des Übergangs vom Leben zum Tod, eine Märchen-Liturgie, in der Entzücken und Erschrecken nahe beieinander liegen. Ernst ist das Leben, heiter der Tod.
Mit nur wenigen Instrumenten und Singstimmen schafft Vivier ein ein oft ungemein sinnliches Netz aus luziden Melodien und schillernden Harmonien. In den quasi-gregorianischen oder psalmodierenden Teilen mag sein musikalisches "Erweckunserlebnis" aus einer Mitternachtsmesse während seiner Seminaristenzeit nachklingen, aber wie er diese Elemente gleichsam neu hört und weiterentwickelt, ist höchst originell. Die Raga-Techniken Indiens klingen mitunter an oder das religiöse Theater Balis. Es wird gesummt, geflötet, beim Singen mit den flachen Händen vor dem Mund geschlagen.
Ohne in einen Retro-Stil zurück zu fallen, kreierte Vivier eine neue Musik, die modale Techniken mit einer ausgefeilten Harmonik verbindet, gewissermaßen eine Art Hypermelodik, wobei die Hauptstimme oft von parallel geführten Stimmen eingehüllt wird. Und im Instrumentalen erfindet er synthetische Klangmischungen, die oft mineralisch oder metallisch klingen.

Verblüffend ist, wie nah er dabei mit seinen ganz eigenen Mitteln dem Musiktheater seines Lehrers Karlheinz Stockhausen kommt. Manches im 1979 komponierten Kopernikus wirkt wie eine Vorwegnahme der späteren LICHT-Opern Stockhausens. Es gibt auch gewisse Anklänge an die Formelkompositionstechniken von Stockhausen, die aber im Wesentlichen auf das melodische Element Anwendung findet. Und auch Vivier bevorzugt vor allem Bläser, weist Klarienetten, Trompete und Posaune markante Rollen zu und setzt auf eine Phantastik, in der Mystik und Narrheit sich verbinden. Dabei ist Vivier im Vergleich mit Stockhausen der sinnlicherere Komponist. Wagner, Skrjabin, Debussy oder Messiaen sind bei ihm sehr viel näher als Bach, Beethoven, Schönberg oder Webern.

Diskographischer Überblick

Leider hat Vivier seine Entdeckungen nur in einem überschaubaren Katalog von Werken weiter entfalten können, die bedeutendsten davon entstanden nach einer Asienreise ab 1976.

1990 erschien eine 4-CD-Box des Kanadischen Rundfunks, die einen großen Querschnitt durch das Gesamtwerk bot.
Einige Jahre darauf dann hat Reinbert de Leeuw mit dem Asko- und Schönberg-Ensemble eine erste Auswahl aus dem "Spätwerk" bei Phlipps herausgebracht, die nach wie vor als Referenz gelten darf. Auf ihr finden sich neben dem Prologue pour un Marco Polo - für fünf Stimmen und Ensemble auch Bouchara - für Solo-Sopran, Bläserquintett, Streichquintett, Schlagzeug und Tonband (1981), das ekstatische Zipangu - für Streichorchester (1980) sowie Lonely Child - für Sopran und Orchester (1980), das weithin berühmteste und vielleicht persönlichste Werk Viviers.
Die Aufnahme ist inzwischen vergriffen, wird aber in Lizens von ArkivMusic angeboten.
Die oben genannte DVD-Produktion ist in Teilen mit der älteren CD-Aufnahme in Programmatik und Besetzung identisch, bietet darüber aber noch den Reiz einer Bühnenproduktion und wartet zudem mit dem letzten, unvollendeten (?) Werk Viviers auf, in dem dieser seine eigene Ermordung gewissermaßen vorausgeahnt (oder gar heraufbeschworen?) hat: Glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele?- für drei Synthesizer, Schlagzeug, und zwölf Stimmen. Interessant ist auch eine biographische Doku, die das Musikprogramm der DVD ergänzt. (Eine ausführliche Biographie und zugleich eine Darstellung von Viviers Werken hat Bob Gilmore veröffentlicht: Claude Vivier. A Composers Life, University of Rochester Press, 2014.)

Eine ebenfalls vergriffene, von der Kritik zu Recht hochgelobte Produktion ist ein Doppelalbum mit diversen Chorwerken Viviers, die von dem Ensemble Solistes XXI unter Rachid Safir eingesungen wurden: Chants - für sieben Frauenstimmen (1972–73), Jesus erbarme dich - für Chor und Sopran (1973), Love Songs - für vier Frauen und drei Männer, a cappella (1977), Journal - für Chor, Schlagzeug und vier Solostimmen (1977) (Soupir S206-NT103) - eine Musik von oft betörender, kristalliner Qualität, mitunter surrealen Einlagen und vokalen Verfremdungen, darunter Lacher und Hickser, die den Einfluss durch den Stockhausen der 1970er Jahre verraten. Stilistisch setzt sich diese Mischung aus Sublimität und Humor u. a. in Kopernikus fort. Und auch inhaltlich kreist die Musik um Viviers große Lebensthemen: Liebe, Erotik, Tod. Journal, in dem Vivier seine Asienreise reflektiert und zugleich archetypische Situationen des menschlichen Lebens, kann man auch als eine Art Requiem hören ...

Zwei große Orchesterwerke, Orion (1979) und Siddhartha (1976) mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter Peter Rundel hat das Label Kairos veröffentlicht (KAI0012472) - leider ist auch diese Produktion inzwischen nicht mehr im regulären Handel. Diese Stücke klingen insgesamt konventioneller als die späteren Werke für Stimmen und Instrumente.

Verfügbar immerhin sind noch das hochpathetische Wo bist du Licht! - für Mezzosopran, Schlagzeug, zwanzig Streicher und Tonband (1981), Greeting Music - für Klavier, Flöte, Oboe, Violoncello und Schlagzeug (1978), Bouchara - für Solo-Sopran, Bläserquintett, Streichquintett, Schlagzeug und Tonband (1981) sowie Trois Airs pour un opéra imaginaire - für Sopran und Ensemble (1982). Die Aufnamhe der Société de musique contemporaine du Québec (SMCQ) unter der Leitung von Walter Boudreau lässt ebenfalls keine Wünsche offen (ATMA Classique ACD22252).

Ansonsten bleibt noch, wie so oft, der Youtube-Kanal eine unerschöpfliche Quelle, um die außergewöhnliche Musik Viviers zu entdecken, z. B. findet sich dort nicht nur ein Mitschnitt einer weiteren, exzellent musizierten Bühnenproduktion von Kopernikus, sondern auch Aufnahmen von Paramirabo oder Pulau Dewata, farbensprühenden Kammermusiken.

Am Ende bleibt das Bedauern, dass Vivier nicht mehr Zeit vergönnt war.



Georg Henkel



Besetzung

Opera Factory Freiburg:
Svea Schildknecht, Dorothea Winkel, Uta Buchheister, Barbara Ostertag, Neal Banerjee, Ji-Su Park, Florian Kontschak (Gesang)
Holst-Sinfonietta: Selen Scheper (Oboe), Julien Laffair - Mariella Bachmann - Nicole Krüger (Klarinetten), Stephan Börsig (Trompete), Andrew Digby (Posaune), Ricardo Marini (Schlagzeug), Cornelius Bauer (Violine)

Klaus Simon: Leitung


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