Musik an sich


Reviews
Cage, J. (Williams u. a.)

Ryoanji (1983/85)


Info
Musikrichtung: Neue Musik Ensemble

VÖ: 16.05.2011

(HAT HUT / Harmonia Mundi / CD / DDD 1995 / Best. Nr. hat[now]ART 153)

Gesamtspielzeit: 60:30



KONTEMPLATIVE KONSTELLATIONEN

Ryoan-ji, was so viel wie „Tempel des befriedeten Drachen“ bedeutet, ist ein berühmter japanischer Zen-Garten in Kyoto aus dem 15. Jahrhundert. In einem rechteckigen, mit Kies gefüllten Bassin befinden sich fünfzehn Felsbrocken, die in fünf Gruppen zu zwei, drei oder fünf Steinen scheinbar zufällig angeordnet wurden und wie Inseln daraus hervorragen. Als John Cage diesen Ort 1962 besuchte, bemerkte er, dass die berühmte und vieldiskutierte Anordnung der Felsen ganz unabhängig vom Originalstandort überall reproduzierbar sei. Die Konstellation der Steine war für ihn gewissermaßen die Essenz dieses Gartens.

Über zwanzig Jahre später notierte Cage eine Komposition unter dem Titel Ryoanji, in der er versuchte, das Prinzip des berühmten Gartens in einer Art Klanginstallation zu wiederholen. Ein genau notierter Schlagzeug-Grund, der aus gleichzeitigen Schlägen auf ein Metall- und ein Holzschlaginstrument besteht, übernimmt dabei die Funktion des Kiesgrundes. Die Felsen liegen darin in Gestalt von ein- oder mehrstimmigen (und sich dann auch überlappenden) Glissandokurven, die von den Umrisslinien von fünfzehn Felsen abgeleitet sind. Diese Kurven können von einem Instrument gespielt werden, das gegebenenfalls mit sich selbst über vorproduzierte Tonbandaufnahmen zu der erforderlichen Zahl von „Felslinien“ aufaddiert wird. Oder aber mehrere verschiedene Instrumente spielen einzelne Linien und werden entsprechend kombiniert. Die vorliegende Aufnahme nutzt beide Lösungen.

Cage verstand jeweils zwei Partiturseiten als einen „Klanggarten“ und wünschte sich entsprechend weich artikulierte, naturnahe Klänge bei den Glissandi.
Die sechs Musiker auf dieser Aufnahme realisierten 1995 das erratische Stück mit Kontrabass, Flöte, Posaune, Oboe und Stimme. Die Klangwirkung der nahezu ansatz- und schlackenlos dargebotenen Musik ist surreal; obwohl man die Instrumente und die Singstimme als solche identifizierten kann, muten die Klangfarben tatsächlich eher wie Naturlaute an. Über knapp sechzig Minuten stellen sie ihre „Umrissklänge“ in den Klanggrund hinein, der vom Schlagzeug mit sparsam gesetzten Schlägen vorgegeben wird. Das Ergebnis ist gewiss eigenwillig und gewöhnungsbedürftig, aber auch auf ergreifende Weise still, klar und von kontemplativer Schönheit. Cage-Gegner, die sich an der offenen Zen-Ästhetik stören, dürften bei diesem sparsamen Stück allerdings gleichfalls auf ihre Kosten kommen.

Eine fernöstliche Anmutung stellt sich wie von selbst ein. Der eigentümliche Mischklang des Schlagzeugs (Jan Williams) erzeugt eine strenge, ritualhafte Atmosphäre. Die trockenen Schläge fungieren wie ein Koordinatennetz: In die Stille bzw. Leere werden Ankerpunkte eingezeichnet. Die verwehenden Flöten- und Obenklänge (Eberhard Blum und Gudrun Reschke; man denkt an Bambusflöte und die scharf timbrierte japanische Oboe), die erdhaften Klänge von Kontrabass (Robert Black) und Posaune (Iven Hausmann) sowie die geisterhafte hohe Tenorstimme (John Patrick Thomas) beschwören Elementarisches und Naturgeisthaftes. Man kann aber auch an die Figurationen der abstrakten Malerei denken (in der Tat war der Komposition eine Serie mit Zeichnungen war vorausgegangen).
Zu „verstehen“ gibt es da eigentlich nichts. Es wird nichts inszeniert oder ausgedrückt. Es entwickelt sich auch nichts. Es gibt nur Klänge, die erscheinen, anwesend sind, wieder verschwinden. Ereignis und Pause fallen gewissermaßen zusammen. Man mag sich beim Hören vorstellen, wie der Blick über die Felsen schweift oder die sich verändernden Lichtverhältnisse die Objekte immer wieder anders erscheinen lassen. Wie im echten Ryoan-ji-Steingarten bedarf es auch bei Cages Klanggärten des Standortwechsels, um alle Objekte sehen zu können. Wenn man die strenge zenbuddhistische Konzeption des Werks einmal akzeptiert hat und eine entsprechend meditative, d. h. wachsame, konzentrierte aber auch erwartungs-leere Hörhaltung einnimmt, kann man dem Stück für eine Stunde lauschen, ohne dass einem die Dauer als „Langeweile“ bewusst wird.
Cage hatte in sofern recht: die Anordnung (der Steine – der Klänge) ist die Essenz von Ryoan-ji, unabhängig vom Ort, aber auch vom Material. Das Klangbild ist sehr klar, räumlich und präsent. Ein gelegentliches leises rhythmisches Hintergrundgrummeln stammt wohl von der Berliner S-Bahnn (Aufnahmeort war die Akademie der Künste). Dieses Nebengräusch stört aber nicht, sondern unterstreicht den Eindruck, inmitten der lärmigen Alltagswelt in einen Raum der Ruhe eingetreten zu sein.



Georg Henkel



Besetzung

Eberhard Blum: Flöte
Gudrun Reschke: Oboe
John Patrick Thomas: Tenor
Iven Hausmann: Posaune
Robert Black: Kontrabass
Jan Williams: Schlagzeug


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>