Musik an sich


Reviews
Rossi, M. (Van Nevel, P.)

La poesia cromatica


Info
Musikrichtung: Barock Madrigal

VÖ: 19.06.2009

(Deutsche Harmonia Mundi / Sony Classical SACD hybrid / live 2008 / Best. Nr. 88697527092)

Gesamtspielzeit: 60:50



GÄRENDE CHROMATIK

Dass Carlo Gesualdo, der Fürst von Venosa, um die Wende zum 17. Jahrhundert nicht der einzige Komponist gewesen ist, der seine fünfstimmigen Madrigale in einer hyperchromatischen Schreibweise zu Papier brachte, hat sich nur langsam herumgesprochen. Gerne erklärte man die Vorliebe des Fürsten für abrupte Harmoniewechsel, pointierte Dissonanzen und chromatische melodische Fortschreitungen mit seiner labilen Psyche. Aber Gesualdo huldigte wie seine Kollegen ganz der zeitgenössischen Antikenbegeisterung, in deren Folge man versuchte, die chromatische Musik der Griechen wiederzubeleben, um sie in den Dienst einer immer weiter intensivierten Textausdeutung zu stellen.
Gesualdo starb 1613. Aber La poesia cromatica (so der Titel dieser Platte) fand noch weitere Nachfolger. Kaum bekannt war bislang Michelangelo Rossi, der von 1601 bis 1656 lebte und in Rom wirkte. Es gibt Einspielungen seiner Toccaten für Cembalo, z. B. von Jörg-Andreas Bötticher. Aber eine Auswahl von 14 reifen Madrigalen und zwei Instrumentalstücken erscheint nun erstmals auf einer SACD mit dem Huelgas Ensemble unter Paul van Nevel. Wieso mussten wir eigentlich so lange drauf warten, wo doch inzwischen auch der belangloseste Kleinmeister mit einer Gesamteinspielung bedacht wird?

Rossis Musik gibt sich in manchem noch extremer als diejenige Gesualdos. Seine dichterischen Vorlagen sind vielleicht weniger plakativ, besingen aber ebenfalls mit Vorliebe jenes Reich zwischen Leben und Tod, in dem sich unglücklich Verliebte bevorzugt aufhalten. Unermesslich sind offenbar die Möglichkeiten, das wonnevolle Sterben mit erlesenen Wendungen zu besingen. Rossis Medium ist ebenfalls das konservative fünfstimmige Madrigal. Allerdings trägt van Nevel der historischen Entwicklung des barocken „Generalbass-Zeitalters“ insoweit Rechnung, als er einige der Madrigale in Teilen instrumental ausführen lässt und nur die führende Stimme vokal. Das klingt mit seinen wilden Modulationen und satztechnischen Brüchen freilich kaum weniger exzentrisch als die reinen Vokalfassungen. Man fühlt sich wie in der späten Spätromantik – Richard Strauss‘ „Elektra“ scheint gar nicht weit entfernt.
Gesteigert wird der Effekt durch die von Rossi offenbar kalkulierten langsamen Tempi, die nur gelegentlich durch bewegte Abschnitte aufgelockert werden. So können die dissonanten Reibungen und gärenden harmonischen Farben intensiv ausgekostet werden und ihre psychoakustische Wirkung entfalten. Lediglich das lebhafte Mentre d’ampia voragine tonante weicht hier ab.

Das Huelgas Ensemble ist vor allem auf Musik des Mittelalters und der Renaissance spezialisiert. Es pflegt einen absolut reinen, schlackenlosen Vortragsstil mit linearer Stimmführung und perfekter Intonation. Und dieser tadellose Live-Mitschnitt lässt in keinem Moment erahnen, dass ohne den doppelten Boden der Studiotechnik „ins Reine“ gesungen wurde.
Der Ansatz des mehrstimmig besetzten, gemischten Ensembles ist dezent. Die Effekte werden nicht durch vokalen Nachdruck weiter gesteigert. Überdies sorgt die Kirchenakustik für ein leicht diffuses Klangbild. So hört man die Musik ausdrucksmäßig in eher objektiver Fassung. Dadurch wird die Qualität der Kompositionen gleichsam in elementarer Form erfahrbar. Vielleicht fühlen sich ja weitere Ensembles inspiriert, Michelangelo Rossis gewagten Kreationen mit einer weniger objektiven Interpretation in einfacher oder rein männlicher Besetzung noch mehr Facetten zu entlocken. Auch von den Instrumentalstücken hätte man gerne noch mehr gehört.



Georg Henkel



Besetzung

Huelgas Ensemble

Paul van Nevel: Leitung


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