Musik an sich


Reviews
Monteverdi, C. (Christie, W.)

L’Orfeo


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 10.06.2009

(Dynamic / Klassik Center Kassel DVD / live 2008 / Best. Nr. 33598)

Gesamtspielzeit: 113:00



COUPS UND KONVENTIONEN

Pier Luigi Pizzi lässt seine Inszenierung von Claudio Monteverdis Opernerstling L’Orfeo mit einem Theatercoup beginnen: Zu den markigen Schlägen einer Pauke fährt der ganze, nur von Fackeln beleuchtete Bühnenbau aus der Tiefe des Unterbodens nach oben. Unter den prächtigen Zink- und Posaunenklängen der eröffnenden Toccata erleben die Zuschauenden die Geburt der Oper aus dem Geist von barockem Illusionismus‘ und modernem High-Tech. Auch sonst versucht Pizzi, barocken Zauber, den technischen Apparat des Teatro Real in Madrid und die heutigen Pulikumserwartungen in ein Gleichgewicht zu bringen. Immerhin hat sich Monteverdis Geniestreich seit seiner historisch informierten Wiederentdeckung durch Nikolaus Harnoncourt in den 1960er Jahren zu einem Klassiker des Repertoires entwickelt und ist Gegenstand unterschiedlichster Interpretationen geworden, die vom barocken Pomp bis zur Kargheit des Regietheaters sehr breit gefächert sind.

Pizzi verlegt das Stück in die Welt des Mantuaner Hofes, wo es seine Uraufführung erlebte. Eine reduzierte Renaissance-Fassade umfängt im hinteren Teil die Einheitsbühne, den Rest macht die Lichtregie. Im ersten Teil tritt eine stilisiert barock kostümierte Hofgesellschaft auf und feiert die Hochzeit zwischen Orpheus und Euridyke. Dabei wird gesungen, gescherzt, geküsst, umarmt und geherzt, dass es mit barocker Etikette freilich nicht mehr weit her ist. Der farbenfrohen, sinnlichen Welt Arkadiens stellt Pizzi dann im zweiten Teil die Nachtschwärze der Unterwelt gegenüber. Orpheus trägt jetzt ein modern geschnittenes schwarzes Hemd und eine ebensolche Hose. An den Ufern des Styx begegnet er dem Totenschiffer Charon – das Grauen, das die steifen wachsbleichen Leichen in seinem Boot hätten verbreiten können, wird leider nicht weiter entfaltet. Pizzi überlässt sich hier ganz der Schönheit der Musik. Im Hades geht es, der barocken Ästhetik verpflichtet, ebenfalls recht geordnet zu: Die Unterweltgeister vollziehen in weißen Gespensterroben eine elegante Choreographie. Pluto und Proserpina entscheiden das Schicksal Eurydikes in weißen Nachthemden im ehelichen Bett.
Nach seiner Rückkehr wird der klagende Sänger (in Anspielung an den Mythos bzw. Monteverdis erste Aufführungs-Fassung) nach seinem großen Monolog von zombiehaften Bacchantinnen zerrissen, bevor er, wunderbar wiederbelebt, mit seinem Vater Apoll gen Himmel fährt.
Alles in allem eine eher konventionelle, verschiedene bewährte Versatzstücke kombinierende Fassung der Oper, die sich im Wesentlichen an der Vorlage orientiert (wobei die Raumklangeffekte wie das Nah- und Fern-Orchester beim Ballo oder die Oben-Unten-Perspektive beim Prolog nur marginal genutzt werden).
Im Extra-Interview betont Pizzi, dass er vor allem eine angemessene Bühne für William Christie und seine Ensemble Les Arts Florissants schaffen wollte, die den Ausführenden Gelegenheit gibt, ihre Möglichkeiten auszuspielen. Auch die Musiker treten im 1. Akt in historischer Kostümierung auf mit Christie als Monteverdi (ebenfalls ein beliebter Effekt).

Unter Christie spielt das Ensemble mit viel Gespür für die symbolischen Klangfarben, die in Monteverdis Komposition stecken (die Version wurde von Jonathan Cable nach dem Erstdruck von 1609 erstellt). Und wie immer ist auch das Continuo-Spiel dramatisch sehr effektvoll.
Beim Gesang steht stets die psychologische Glaubwürdigkeit der Figuren im Vordergrund, ihr Fühlen, Erleben und Erleiden. Christie hat darum auf einen durchweg rezitierenden Gesangsstil mit vielen Ausdrucksnuancen Wert gelegt. Andere Musiker betonen da mehr die melodische Seite von Monteverdis Stil und knüpfen mit leichten Stimmen an die Ästhetik der Spätrenaissance an.
Mit Dietrich Henschel wurde ein Sänger verpflichtet, der mit markanter und leidenschaftlicher, dunkel timbrierter Deklamation vor allem die menschliche Seite des Orpheus betont, während der halbgöttliche Sänger bei ihm eher erdverbunden wirkt. Henschel hat eine charaktervolle, aber nicht eben delikate Stimme, so dass das berühmte Possente spirito zwar ausdrucksvoll, jedoch nicht wirklich betörend klingt. Bei Luigi De Donatos eher hellem, leichten Bass hat er mit Charonte allerdings keinen wirklich höllischen Gegner zu bewältigen. Es sind in dieser Produktion häufig die Nebenrollen, die durch die Verbindung von darstellendem und lyrischen bzw. kantablen Gesang positiv herausstechen, z. B. die Hirten von Cyril Auvity, Juan Sancho und Jonathan Sells (Xavier Sabatas Altus wirkt dagegen etwas matt). Maria Grazia Schiavo überzeugt gleich in drei Rollen als Musica, Eurydike und Proserpina durch ihren gut geführten, leuchtenden Sopran.

Das Label plant mit dem Ensemble übrigens eine ganze Monteverdi-Trilogie. Es wird interessant sein zu sehen, was Christie und seine Musiker mit den deutlich reduzierteren Partituren von Il ritorno d’Ulisse in patria und L’incoronazione di Poppea anfangen werden. Bei Virgin gibt es bereits eine Einspielung der Odysseus-Oper auf DVD, bei der Christie ganz bewusst auf eine Anreicherung der schlichten Notation mit zusätzlichen Farben und Instrumenten verzichtet hat.



Georg Henkel



Trackliste
Extras: Interviews (ca. 15 Minuten)
Besetzung

Dietrich Henschel: Orfeo
Maria Grazia Schiavo: La Musica, Euricide, Proserpina
Sonia Prina: La Messagera, La Speranza
Luigi de Donato: Caronte
Antonio Abete: Pluto
Agustin Prunell-Friend: Apollo
u. a.


Chor und Orchester von Les Arts Florissants

William Christie: Leitung, Orgel und Cembalo

Pier Luigi Pizzi: Regie



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