Musik an sich


Reviews
Gluck – Piccini – Sacchini u. a. (Gens, V. – Rousset, Chr.)

Tragédiennes 2


Info
Musikrichtung: Französische Oper

VÖ: 29.05.2009

(Virgin Classics / EMI CD / DDD / 2008 / Best. Nr. 2 16574 2 9)

Gesamtspielzeit: 67:18



PERSPEKTIVREICH

Aus den meist düster-erregten Stücken dieser CD ragen die Instrumentalsätze Jean-Philippe Rameaus aus Les Paladins heraus. Die klare, funkelnde Instrumentierung und der raffiniert durchbrochene Satz des fröhlichen Troubadour-Entree passen allerdings auch besser zum leichten Ton eines Comédie-ballet als die gedämpften elegischen Töne, mit denen Christoph Willibald Gluck in seiner Action théâtrale Orphée et Eurydice den Reigen der Seligen Geister ausmalt. Ganz zu schweigen vom orchestralen Rasen beim Tanz der Furien in derselben Oper.
Wenn dann aber bei Rameau eine gewisse Argie zu Beginn der Paladins ihr Triste séjour anstimmt, dann befindet man sich als Hörer, Komödie hin oder her, doch in einer echten Musik-Tragödie. Oder? Rameau hat in seinem 1760 komponierten Stück eine humorvolle Bilanz seines eigenen Schaffens gezogen und spielt ein mehrdeutiges Spiel mit den Formeln der französischen Tragédie lyrique, die seit Lully die Opernbühnen Frankreichs nicht nur in Paris beherrschte. Argies Schmerz könnte echt sein und tief. Oder bloß die Klage eines verwöhnten, selbstverliebten Mädchens. Rameaus kunstvolle Selbstparodie hat dem Publikum nicht gefallen – das Stück wurde ein Flop.

Rameaus Nachfolger vermeiden alle Doppelbödigkeiten: Bei Gluck, Antonio Sacchini oder Nicolò Piccini befinden sich die Heroinnen auf jeden Fall in ausweglosen Situationen zwischen Liebe und Hass oder Leben und Tod. Entsprechend dunkel und wuchtig, ernst und erhaben klingt die Musik hier. Und wo Rameau eher der klassischen Deklamation huldigt, integrieren seine Erben stärker das italienische Element: die Deklamation wird flüssiger, die melodischen Anteile immer ausgeprägter. Auch die Virtuosität nimmt zu, wie man z. B. bei Sacchinis Arie der Isphise aus dem Dardanus hören kann. Opera Seria und Tragédie lyrique fusionieren.
Bei Luigi Cherubini kommt ein epischer, romantischer Ton dazu, der dann in Hector Berlioz‘ Monumentaloper Les Troyens gipfelt. Die Länge der Arien nimmt zu, ebenso die Differenzierung des Ausdrucks. In diesen Werken steckt nicht mehr viel von der Leichtigkeit und Delikatesse Rameaus, aber immer noch viel von Glucks archaisierendem Tragödienton (obwohl Berlioz mit seinem instrumentalen Raffinement Rameau noch am nächsten kommt).

Angesichts des Perspektivreichtums und seltenen Repertoires ist dieser zweite Teil der von Véronique Gens und Christophe Rousset vorgelegten Tragédiennes sehr willkommen. Gens entlockt den Vorlagen mit ihrer dunklen, farbenreichen Sopranstimme immer wieder andere Nuancen, so dass die Leidenden nicht zu bloßen Affekt-Schablonen werden. Dabei setzt sie mehr auf genau ausformulierte Zwischentöne denn auf große dramatische Gesten (die ihrer Stimme vor allem beim Ausgriff ins hohe Register auch weniger liegen). Im Vergleich zum Programm des 1. Teils wirken die Stücke allerdings konventioneller, sind mehr in einer Farbe gehalten (Ausnahme: Rameau).
Auf vergleichbar hohem, da differenzierten Niveau begleiten Rousset und Les Talens Lyrique: Mit noblem Ton und wohlplatzierten markigen Akzenten erwecken sie die dramatische Welt der späten Tragédie zum Leben und zeigen, dass dort noch manche Entdeckungen zu machen sind. Lediglich beim „Reigen der seligen Geister“ hätte Rousset mehr Ruhe und Sinnlichkeit walten lassen können; auch die Solo-Flöte wirkt recht erschöpft.

Leider gibt es bislang keine Anzeichen, dass die vielgelobte Brüsseler Produktion von Cherubinis Medée mit Rousset und seinem Orchester auf CD oder DVD veröffentlicht wird.



Georg Henkel



Trackliste
1Gluck, Alceste: Ah! Divinités implacables6:38
2 Sacchini, Dardanus: Rine ne peut émouvoir3:49
3 Sacchini, Dardanus: Cesse curel amour de régner sur mon âme3:04
4 Piccini, Didon: Non, ce n’est plus pour moi4:27
5 Gluck, Orphée et Eurydice: Ballet des ombres heureuses5:10
6 Gluck, Orphée et Eurydice: Air de Furies4:02
7 Saccini, Œdipe à Colone: Dieux, ce n’est pas pour moi que ma voix vous implore2:20
8 Grétry, Andromaque: Si fidèle au nœud qui l’engage2:34
9 Rameau, Les Paladins: Entrée très gaye de Troubadours2:25
10 Rameau, Les Paladins: Triste séjour2:28
11 Rameau, Les Paladins: Sarabande3:03
12 Saccini, Renaud: Ah! Que dis-tu?3:33
13 Rameau, Les Paladins: Menuets I&II4:33
14 Cherubini, Medée: Ah! Nos peines seront communes8:24
15 De Arriga, Herminie: Dieux cruels3:48
16 Berlioz, Les Troyens: Les Grecs ont disparu … Malhereux Roi7:00
Besetzung

Véronique Gens: Sopran

Les Talens Lyrique

Christophe Rousset: Leitung


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>