Musik an sich


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Orff, C. (Leitner)

Antigonae


Info
Musikrichtung: 20. Jhd. Oper

VÖ: 01.01.2007

Wallhall. Eternity Series / Gebhard Musikvertrieb
2 CD (AD ADD mono Live 1956) / Best. Nr. WLCD 0189


Gesamtspielzeit: 144:53



DER UNTERSCHÄTZE

Carl Orff = Carmina Burana. Der größte Erfolg des bayerischen Komponisten erweist sich nach wie vor als größtes Hemmnis, sein Gesamtwerk für das Musiktheater angemessen wahrzunehmen. Dabei ist es diskographisch wenigstens ausreichend dokumentiert, wenngleich manche Einspielung zur Zeit leider gestrichen ist, darunter sein unerhörtes Endspiel De Temporum Fine Comoedia aus dem Jahr 1973, dessen CD-Wiederveröffentlichung (Karajan, DG) inzwischen für bis zu 100 € gehandelt wird!

Zu Orffs Hauptwerk der späten 40er bis 60er Jahre gehören die drei antiken Dramen Antigonae, Oedipus der Tyrann (beide nach Sophokles in der Nachdichtung Friedrich Hölderlins) sowie, im griechischen Original, Aischylos’ Prometheus.
Ein soeben veröffentlichter Mono-Live-Mitschnitt der Antigonae aus dem Staatstheater Stuttgart vom 9. März 1956 unter Ferdinand Leitner bietet zu einem sehr günstigen Preis die Gelegenheit, den unbekannten Orff kennenzulernen, wobei ich nicht verhehlen will, dass es sich durchaus um ein Werk für Fortgeschrittene handelt. Leichter zugänglich sind die die Carmina Burana zum Triptychon ergänzenden Catulli Carmina und Trionfo di Aphrodite (ältere Referenzeinspielung unter Eugen Jochum (DG), gelungen auch die Neueinspielung unter Franz-Welser Möst (EMI)). Da die DG Einspielung von 1961 (ebenfalls unter Leitner, aber ansonsten mit anderen Besetzung) zur Zeit nicht erhältlich ist und eine Solti-Produktion von 1951 (Orfeo und Line) nur mit einer mäßigen Klangqualität aufwarten kann, kommt diese unglaublich energiegeladene, im Vokalen fast schon überpräsente Einspielung trotz kleiner Unsauberkeiten (vor allem bei den Choreinsätzen) gerade recht.
Die Restaurierung des Mitschnitts ist gut gelungen, die knisternde Liveatmosphäre kommt trotz der Nebengeräusche der theatralischen Gesamtwirkung zu Gute. Zwar ist das Orchester wie seinerzeit bei Aufnahmen üblich etwas in den Hintergrund geraten und klingt in den Bassregistern etwas mulmig. Da es sich aber mehr um eine Art Bühnenmusik handelt, die vor allem rhythmische und klangfarbliche Akzente setzt, Orffs Hauptaugenmerk aber auf der mal deklamatorisch, mal sängerisch erhöhten Nachdichtung Hölderlins liegt, macht dies nicht viel.

Die ideale Sängerbesetzung bietet auf, was damals Rang und Namen hatte: die hochdramatische Martha Mödl als Antigonae, Hetty Plümacher als Ismene, der bis zur Selbstentäußerung stimmgewaltige Hermann Uhde als König Kreon, Josef Traxel als Seher Tiresias. Unter den Chorsolisten befindet sich der junge Fritz Wunderlich. Alle agieren mit derartiger Verve und hörbarem Vergnügen, dass man Freunden diskreterer, um nicht zu sagen „gepflegter“ Sangeskunst wohl abraten muss. Die ungemein plastische, aber auch sehrrr deutsche Diktion dürfte ebenfalls mehr etwas für den erworbenen Geschmack sein. Man muss schon etwas sensibel für historische Aufführungsgepflogenheiten und Klangbilder sein, um diese Interpretation goutieren zu können. Dann aber bekommt man ein hochspannendes Musiktheater geboten, das auch als inspiriertes Hölderlin-Hörspiel durchgeht: Von elementarer Wucht in ihrer nur scheinbar lapidaren, musikalisch ebenso kunst- wie effektvoll reduzierten Sprache, hat Orffs Antigonae mit der süffigen Carmina Burana nur noch dem Prinzip nach etwas zu tun.
Der riesige Schlagwerkapparat beherrscht das instrumentale Geschehen mit antiken Skalen, stampfenden Ostinati, wilden Glissandi und erdhaften, unterweltlichen Klangballungen. Die Streicher fehlen. Der Klang ist exotisch, archaisch, gänzlich „unromantisch“. Auf diesem Fundament wird der nicht minder kraftgeladene vokale Part rhythmisch durchgeformt vorangetrieben. Sprache und Bewegung bilden wie einst im griechischen Musikverständnis eine Einheit. Das Spektrum reicht von einem verinnerlichten Psalmodieren über erregte Rede und weit ausschwingendes Melos bis hin zum kontrolliert-exaltierten Schrei.

Orff ist den emotionalen Spannungen der litarischen Vorlage nicht ausgewichen, sondern hat sich ihnen mit Begeisterung gestellt. Die erregten Choreinwürfe, Antigones Grabgesang oder Kreons finaler Wahnsinn haben etwas Bedrängendes und gehen unter die Haut.
Wer hinter seiner symbolhaften Objektivierung der musikalischen Sprache die Auslöschung des Subjekts wittert, gar ungutes teutonisches Getöse zu vernehmen meint, trifft den zeitgeistigen Kern und verfehlt ihn zugleich. Orff hat nach eigenem Bekunden kein Werk für den Repertoirebetrieb geschrieben, sondern wollte das kultische Theater der Antike mit modernen Mitteln neu erschaffen. Dabei gelingt ihm, ähnlich wie Fellini in seinen Filmen, eine Beschwörung der Antike mit ganz unarchäologischen Mitteln. Die aber erweisen sich, was Wirkung und Atmosphäre angeht, als sehr viel authentischer als es eine philologisch korrekte Rekonstruktion je sein könnte.
Das ist kein stiller und erhabener Über-Ich-Klassizismus à la Winkelmann! Man fühlt sich in eine imaginäre hellenistische Welt versetzt, die ihr Selbstverständnis noch wesentlich aus dem Mythos ableitet. So könnte die antike Tragödie zu ihrer Hochzeit geklungen haben.

Mit seiner Nach-Burana-Musik steht Orff als origineller Außenseiter des 20. Jahrhunderts nach wie vor am Rande. Zu Unrecht. Gelegentliche Aufführungen erweisen immer wieder Bühnentauglichkeit und musikalische Wirkung.
Auch der seit einigen Jahren in einer legendären Einspielung des Bayerischen Rundfunks unter Raffael Kubelik greifbare Prometheus (Orfeo), der die Mittel der Antigonae noch stärker verdichtet und sich über weite Strecken als auskomponiertes Sprechtheater erweist, demonstriert nicht nur eindrücklich, wie reich Orffs elementarisiertes Vokabular ist, sondern wie dramatisch packend und theatralisch intensiv so etwas sein kann.

Diese Antigonae kann ich den Kennern und Liebhabern von Orffs Musik nur wärmstens empfehlen.



Georg Henkel



Besetzung

Martha Mödl, Antigonae
Hetty Plümacher, Ismene
Hermann Uhde, Kreon
Gerhard Stolze, Wächter
Helmut Schindler, Hämon
Josef Traxel, Teresias
Grace Hoffmann, Eurydice

Staatsopernchor und Staatsorchester Stuttgart
Ltg. Ferdinand Leitner



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