Musik an sich


Reviews
Monteverdi, C. (Cavina)

L’Orfeo. Favola in musica


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 01.06.2007

Glossa / Note 1
2 CD (AD DDD 2006) / Best. Nr. GCD 920913


Gesamtspielzeit: 114:52



NAZARENISCH

Wem dem Vozug geben: der musikalischen Fantasie oder dem (Noten)Text? Der Sänger und Ensembleleiter Claudio Cavina hat sich bei seiner Neuinterpretation von Claudio Monteverdis Opernerstling L’Orfeo für letzteren entschieden. Bis auf einige vernachlässigbare Ausnahmen hält er sich genau an die Erstausgabe von 1609. Die freilich weist manche Druckfehler auf und lässt immer noch genug Interpretationsspielraum. Cavina hat diesen Spielraum unter Einbeziehung der jüngsten Forschungsergebnisse mit dem Ziel ausgestaltet, die Einspielung durch das Ensemble La Venexiana zu einer möglichst getreuen Rekonstruktion der ersten Aufführung in Mantua zu machen. Das ist an sich nicht neu, wird hier aber radikaler als bei vielen seiner Kolleg/innen umgesetzt.

Interessant sind z. B. Cavinas Überlegungen zur Aufstellung der Instrumente. Diese war keinesfalls zufällig. Auch orientierte sie sich nicht an modernen Vorstellungen von reichen Klangfarbenmischungen. Vielmehr folgte sie einer symbolischen Ordnung: die Musik der „Guten“ bzw. des Himmels ertönte von rechts, die der „Bösen“ bzw. der Unterwelt von links.
Das bei modernen Aufführungen gerne reichlich eingesetzte Schlagwerk bleibt bis auf kurze Momente in der abschließenden Moresca ausgeschlossen: Es passe historisch einfach nicht zu einer solchen höfischen Kammeraufführung, so Cavina. Die Moresca hingegen sei in mit Schellen besetzten Kostümen getanzt worden. Freilich fügt sich deren zartes Klingen ebenso wie alle anderen Zutaten zurückhaltend in die höhere zeremoniale Architektur des Werkes ein.
Mangelnde Konsequenz kann man der Interpretation kaum vorwerfen: Auch die berühmte Eröffnungsfanfare beschränkt sich auf das reine Trompeten-Consort (im Wechsel mit den übrigen Instrumenten): eine diskrete Einladung an das seinerzeit adelige Publikum, sich zur Aufführung einzufinden. Selbst der Einsatz der Blockflöten, die bei vielen der heutigen Aufführungen vielfach für zusätzliche Farbtupfer im Orchestersatz sorgen, bleibt, wie in der Partitur vorgeschrieben, auf einige eindeutig pastorale Szenen beschränkt.
Deutlicher als bei vielen anderen Einspielungen wird, dass es sich bei den Instrumenten um Klangkulissen mit genau umschriebener Signal-Funktion handelt. Das alles ist erhellend und stellt manche inzwischen liebgewordene historisierende Mode nicht ganz zu Unrecht in Frage.

Wie sieht es aber mit der musikdramatischen Lebendigkeit aus? Cavina bleibt auch hier seinem strengen Ansatz treu: Monteverdis „Geschichte in Musik“ ist eine Madrigaloper. La Venexiana füllt die vom Libretto geschaffenen szenischen „Flächen“ mit vokalen Linien und den dazugehörigen Instrumentalfarben aus, wie immer auf hohen technischem Niveau und subtiler Durchformung jeder Partie.
Das Ergebnis ist allerdings von einiger Statik. Dazu tragen nicht nur die insgesamt breiten Tempi bei. Auch stehen die musikalischen Elemente wie Sinfonien, Rezitative, Ritornelle, Arien, Chöre und Tänze alle für sich. Es gibt keine Vorwärtsbewegung und keinen übergeordneten Spannungsbogen. Die Ritornelle und Sinfonien wirken überdies im Vergleich mit dem Vokalsatz flach und spannungsarm. Cavina erlaubt sich keine Lizenzen vom Text und keine improvisierten Ausschmückungen. Man hört eine Reihe von Miniaturen, deren Authentizität man bewundern kann, die aber kein emotionales Interesse für die Schicksale der Personen auslösen.
Monteverdis L’Orfeo mag aus der Madrigal- und Intermedien-Kunst der Renaissance erwachsen sein. Er geht aber auch darüber hinaus und erzählt eine Geschichte um Leben, Liebe und Tod! Erstes Ziel ist nicht mehr nur die minuziöse Textausdeutung, sondern die Darstellung von Menschen und Affekten. Was mir bei Cavina fehlt, ist eine Leidenschaft musikalischer Rede, die auch heute bewegt. Der Eindruck ist dem vergleichbar, den man bei der Betrachtung eines Nazarener-Gemäldes aus dem frühen 19. Jahrhundert haben kann: eine gewiss ehrfürchtige, aber blass und steif wirkende Renaissance-Adaption.



Georg Henkel



Besetzung

Emanuela Galli: La Musica, Euridice
Mirko Guadagnino: Orfeo
Marina De Liso: Massagiera
Cristina Calzolai: Proserpina
Matteio Bellotto: Plutone
Josè Lo Monaco: Speranza
Salvo Vitale: Caronte
u.a.

Ltg. Claudio Cavina


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>