Musik an sich


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BAROCKER KULTURTRANSFER
Heinrich Schütz (1585-1672): Musicalische Vesper

Naxos DDD (AD 2002) / Best. Nr. 8.557130
Barock / Vokal
Cover
Interpreten:
Kölner Kammerchor / Collegim Cartusianum
Peter Neumann

Interpretation: ++++
Klang: ++++
Edition: ++++

LITURGISCHE REKONSTRUKTIONEN

Etwas sorgen- und kummervoll schaut er schon drein auf seinem Porträt, der Heinrich Schütz:

Cover

Die vorliegende Einspielung wird wohl kaum die Ursache dafür sein: Ein versiertes Ensemble aus Solisten, dem Kölner Kammerchor und dem Collegium Cartusianum unter Peter Neumann präsentiert eine Auswahl seiner Werke in Form einer Vesper, dem Abendgebet der Kirche. Gegen die Mode von leicht verdaulichen "Best-of-Compilations" und der Schnipselwirtschaft von "Klassik-Radio" wird die Musik in ihrem historischen Zusammenhang zu Gehör gebracht. In diesem Fall ist das ein fiktiver protestantischer Gottesdienst des 17. Jahrhunderts. Mag uns da auch sehr Vieles sehr fremd geworden sein: die rekonstruierte liturgische Ordnung sorgt bei dieser Produktion für die notwendige Konsistenz, Dramaturgie und Binnenspannung.

ÖKUMENE ALS KULTUR-TRANSFER

Schütz' Musik ist der Beweis dafür, wie sich die aktuell auf dem Berliner Kirchentag beschworene Ökumene schon im 17. Jahrhundert abseits aller dogmatischen Grabenkämpfe ganz praktisch im Kultur-Transfer ereignete. Der Lutheraner Schütz nämlich reiste eigens in die katholische Republik Venedig, um dort die seinerzeit jüngsten kirchenmusikalischen Entwicklungen zu studieren. Insbesondere die Gottesdienste in San Marco waren berühmt für ihre mehrchörige Klangpracht und die aufregend neuartige, affektive Ausdeutung der Texte. Schütz exportierte diesen Stil in seine ost- und mitteldeutsche Heimat und stellte ihn in den Dienst protestantischer Wortverkündigung. Ein epochaler Schritt - zusammen mit seinen ebenfalls reise- und studienfreudigen Kollegen legte Schütz den Grundstein für jene barock-protestantische Kirchenmusik, die mit Bach ihren Zenit erreichen sollte.

Wie geschickt und durchaus originell Schütz den venezianischen Stil für die nicht immer sangliche deutsche Sprache adaptierte, kann man hier hören. Zwischen eindringlichen solistischen Stücken für Singstimme und Basso Continuo gibt es prachtvolle mehrstimmige und mehrchörige Kompositionen, die sicher auch in San Marco ihr Publikum gefunden hätten. Schütz Werke mögen vielleicht nicht so glutvoll und überschwänglich (man könnte auch sagen: von katholischer Mystik erfüllt) sein wie die italienischen Vorbilder. Aber dafür auf ihre Weise sehr ausdrucksvoll, vielfältig und einfallsreich.

KLANGPRÄCHTIG

Interessant ist da der Vergleich mit der aktuellen Einspielung des Altbachischen Archivs durch Cantus Cölln (HMF; s. MAS 7/2003): Werden dort sämtliche Partien einstimmig besetzt (was der historischen Praxis entspricht), hat sich Peter Neumann für eine mehrstimmige Besetzung der Chor-Partien entschieden. Das sorgt für eindrucksvolle dynamische Kontraste und verleiht der Musik zudem eine ungeahnte Weiträumigkeit und sinnliche Klangfülle. Auch deklamieren die Solisten weicher, empfindsamer und überhaupt mit subjektiverem Ausdruck als die Sänger/innen von Cantus Cölln. Das runde, seidige Klangbild der Schütz-Produktion, dass die Musik nicht in analysierender kammermusikalischer Nahsicht, sondern panoramagleich in kirchenräumlicher Distanz platziert, kommt diesem Ansatz und der quasi-liturgischen Konzeption sehr entgegen. Und wer über eine Sourround-Anlage verfügt, dürfte an der Mehrchörigkeit eine ganz besondere Freude haben!

16 Punkte

Georg Henkel

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