Musik an sich


Reviews
KLANG-PASSION
Joseph Haydn (1732-1809): Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz

CCn'C Records DDD (AD 2002) / Best.Nr. 02532

Klassik / Kammermusik
Cover
Interpreten:
Ensemble OPUS POSTH. Moskauer Academy of Ancient Music
Leitung: Tatjana Grindenko

Interpretation: ++++
Klang: ++++
Edition: ++++

PASSIONS-KONZENTRAT

Haydn selbst wird irgendwann den Überblick verloren haben. Bereits zu Lebzeiten kursierten vier Bearbeitungen jener sieben Sonaten, die er, gerahmt von einer "Introduzione" und einem "Terremotu" (einem "Erdbeben in Musik"), unter dem Titel "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" im Jahre 1786 komponiert hatte. Nach eigenen Angaben schuf er die Werke 1787 für den Bischof im spanischen Cádiz.
Falsch! Heute weiß die fleißige musikwissenschaftlicher Forschung besser als Herr Haydn, wofür er die Stücke eigentlich komponierte: für die Passionsandachten eines zum Priester geweihten Markgrafen in einer Kapelle der Stadtkirche "Santa Rosário" in Cádiz. Aha! Hintergrund für die "Sieben letzten Worten" sind jene Aussprüche, die Jesus nach den Passionsberichten der vier Evangelien getan hat. Gewissermaßen ein Passions-Konzentrat, das immer wieder neu zur Meditation und Vergegenwärtigung des Erlösungsmysteriums einlädt:

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Wahrlich, ich sage dir: heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.
Weib, siehe, das ist dein Sohn.
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.
Mich dürstet.
Es ist vollbracht
Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.

... zwischen Krypta und Höhle: die Kapelle La Cueva / Santa Rosario, Hochaltar

BEARBEITUNG DER BEARBEITUNG

Die urspüngliche Fassung war nur für ein gemischtes Instrumentalensemble geschrieben worden, wobei der Text gewissermaßen wortlos von der 1. Violine deklamiert wurde. 1787 arrangierte Haydn das Werk für ein Streichquartett, 1792 folgte die Umarbeitung zu einer Kantate mit Chor durch einen Passauer Domkapellmeister. Diese Version überarbeitete Haydn erneut 1796, wobei vor allem der volkstümliche und schwärmerische Text der früheren Fassung redigiert oder ersetzt wurde.

Die Einspielung durch das Moskauer Ensemble für Alte Musik OPUS POSTH. präsentiert eine eigenwillige, aber überzeugende fünfte Variante, der Haydn seine Zustimmung wohl nicht versagen dürfte: Die Musiker gehen auf die Fassung für Streichquartett zurück, erweitern sie aber zum Oktett mit zusätzlichem Kontrabass. Außerdem wurden die modernen Instrumente auf den historischen Stimmton von 420 Hz herabgestimmt (heute liegt dieser bei über 440 Hz).
Das sorgt für einen dichten und sonoren, stellenweise wuchtigen Klang mit einem starken Bassfundament. Das erlaubt aber auch den Wechsel von Tutti- und Solo-Besetzungen und ermöglicht eine differenzierte Binnendramaturgie. Die Rezeption historischer Aufführungspraxis tut ein übriges, die Hörgewohnheiten nachhaltig zu irritieren.

Das ist auch nötig: Haydns "Sieben letzte Worte" gehören zu jenem Repertoire an "Andachtsmusik", das immer wieder gern für die Erzeugung erbaulicher und inniger frommer Gefühle - im biedersten Sinn des Wortes - herangezogen wird. Typisch eben für den netten "Papa Haydn" (von Mozart, war aber nicht so gemeint). Passion light, wie angenehm. Nun läßt sich der spezifische, verbindliche und sangliche Ton der "Wiener Klassik" bei dieser Musik wahrlich nicht leugnen. "Schöne", melodische Wendungen gibt es da zuhauf. Und die Sonatenhauptsatzform ja per se darauf angelegt, zwischen den Gegensätzen zu vermitteln.

COMPASSIO STATT DISTANZIERTE ERBAULICHKEIT

Genau darin liegt aber die Gefahr: Da wird nur allzu häufig distanziert-meditativ musiziert, wo Unmittelbarkeit gefordert ist, da wird Erhabenheit produziert, wo die Musik die brutale Erniedrigung und physischen Schmerz zum Ausdruck bringt. Haydn wollte aber genau das: beim Hörer den "tiefsten Eindruck in Seiner Seele wecken", indem er ihn durch seine Musik in das Erleben des Gekreuzigten mithineinnimmt und zur Compassio, zum Mitleiden im wörtlichen Sinne des Wortes, auffordert. Die "sieben letzten Worte" werden daher nicht nur als musikalische "Predigt" verkündet, sondern regelrecht - im Klang - verkörperlicht und psychologisiert.

Diese Intention, und eben darauf kommt es an, machen sich auch Tatjana Grindenko und die übrigen Musiker des OPUS POSTH. zu eigen. Mit kraftvollem, sehr geradlinigem und manchmal geradezu aggressivem Bogenstrich und geschärfter Artikulation wird die Passion Christi mit rein musikalischen Mitteln gegenwärtig gesetzt. Persönlich habe ich bei dem stahlsaiten-gehärteten Klang dann manchmal aber doch den weicheren Sound historischer Darmsaiten vermißt. Atmosphärischer und wärmer klingen die allemal, und manche Effekte hätten, trotz des geringeren dynamischen Ambitus', durch den "schmutzigeren" und theatralischen Klang sicherlich noch gewonnen. Obwohl ich einen zupackenden Zugriff grundsätzlich schätze: Bei OPUS POSTH. wird es mir auf Dauer zu massiv mit dem unbedingten Willen zum Ausdruck.
Die extrem zugespitzten, manchmal schockierenden Kontraste gehören allerdings zur originären Affektregie Haydns: Gottesferne und Gottesglaube, unermessliches Leid und ebensolcher Trost, Immanenz und Transzendez prallen aufeinander. Dabei verhindert nicht zuletzt das direkte, sehr körperliche Klangbild jene selbst-gefällige Spiritualisierung, die diese Spannung in sentimentale Unverbindlichkeit auflösen möchte.

14 Punkte

Georg Henkel

Zurück zur Review-Übersicht