Musik an sich


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AVANTGARDE DES ORITINALKLANGS
Georg Friederich Händels (1685-1755) Wasser Musik und Feuerwerksmusik in "Originalfassungen"

Glossa CD DDD (AD 2002) / Best. Nr. GCD 921 606

Barock / Instrumental
Cover
Interpreten:
Le Concert Spirituel
Hervé Niquet

Interpretation: +++/++++
Klang: ++++
Edition: +++++


DER KREIS SCHLIESST SICH: BAROCKE AVANTGARDE

Der zeitgenössische Komponist György Ligeti hätte sicherlich seine Freude an dieser neuen Aufnahme mit zwei instrumentalen Händelhits, die ansonsten auf den Programmen von Silverstergalas und Sonntagmorgenkonzerten stehen!
Ligeti hält nämlich das heute gebräuchliche chromatische System, bei dem die Oktave mathematisch in zwölf gleiche Teile unterteilt wird, für verbraucht. Denn die mathematischen Verhältnisse entsprechen nicht den reinen, aber ungeraden akustischen Schwingungsverhältnissen von Oktave, Quint, Sext, Terz etc. Die Intervalle wurden ein wenig manipuliert, durch leichte Verstimmungen "gleichgemacht", um z. B. auf dem Klavier quer durch alle Tonarten spielen zu können. Seit den 60er Jahren hat Ligeti es auf verschiedenen Wegen unternommen, die Grenzen des Zwölftonraums und der "wohltemperierten" Stimmung zu überwinden. Hier könnte er nun hören, wie die ältere Musik vor der Revolution der "temperierten" Stimmung geklungen hat: überraschenderweise mehr nach Ligeti als nach, sagen wir mal, Anton Bruckner.

HÄNDEL UNGETUNED

Wie kommts? Mag sich in der einst so revolutionären und umstrittenen "Originalklangbewegung" ein gewisser, bei aller technischen Perfektionierung manchmal auch enttäuschend glatter Standardklang durchgesetzt haben, so gibt es sie trotzdem noch: Einzelne Musiker und Ensemble, die sich auf die avantgardistischen Anfänge einst und jetzt besinnen und etwas riskieren.
Hervé Niquet und seine Musiker z. B. Die wollten für die Wasser- und Feuerwerksmusik den barocken Klang sozusagen ungetuned - sofern man so etwas überhaupt rekonstruieren kann. Denn beide Werke waren ursprünglich repräsentative Freiluftmusiken, dazu bestimmt, große öffentliche Public-Relation-Aktionen des englischen Königs angemessen zu untermalen. Im Fall der Wassermusik wurde 1717 in einem Boot auf der Themse musiziert, mit der Feuerwerksmusik hat man 1749 den für England lukrativen "Frieden von Aachen" befeiert.

Aber was heißt das praktisch für die aktuelle Einspielung? Man hört hier die originale Riesenbesetzung mit über hundert Musikern, die Hälfte davon Streicher, die andere Hälfte Bläser - 9 Trompeten und 9 Hörner, 24 Oboen, 15 Flöten, 12 Fagotte, 2 Kontrafagotte und eine Schlagzeugbatterie! Allerdings nicht im Freien, sondern in einem Konzertsaal aufgenommen bzw. im akustischen "Schrumpfformat" von den heimischen Boxen reproduziert.
Solche Versuche mit großem Apparat gab es schon früher, allerdings nicht in der Mischung Streicher/Bläser. Neu ist die Radikalität, mit der selbst die Details des Instrumentariums Berücksitigung fanden: ein besonders klangintensiver Oboentyp aus der Händelzeit wurde ausgewählt, bei den Fagotten beschnitt man die Zungen, was für eine besonders durchschlagendes Bassregister sorgt. Und bei den Blechbläsern verzichtete man auf die heute üblichen Kompromisslösungen. Denn weil die Intonation auf den noch ventillosen Instrumenten des Barock - eigentlich nur ein langes gewundenes Rohr mit Mundstück und Schalltrichter - so heikel ist, hat man sich stillschweigend darauf geeinigt, kleine Bohrungen - Grifflöcher - anzubringen, die ebenso wie die Modulation der Töne mit der Hand im Schalltrichter der Hörner das saubere Spiel erleichtern. Grundsätzlich kann man auf diesen Instrumenten nur die Naturtöne spielen, und zwar in "akustisch reiner" mitteltöniger Stimmung: die große Terz und die kleine Se time klingen tiefer. Das hat hörbare Folgen für den Gesamtklang ...

VIRTUOS, WILD, RAUH UND MANCHMAL ZIEMLICH SCHRÄG

Und so klingt das Ergebnis: zügig werden die Tempi genommen, geradezu tänzerisch (französisch) kommt die Phrasierung daher, und die voluminöse Besetzung bleibt wegen der kontrastreichen Registrierung immer transparent genug. Riesenhaft vergrößerte Kammermusik, sozusagen.
Ungewohnt die Farben: Gleich das seidig-opake Oboenregister im Adagio der "Wassermusik" läßt aufhorchen, ebenso der rauhe, martialische Klang im Fugato der "Feuerwerksmusik", wenn die Bläser und Streicher ineinanderfahren. Alles hat zugleich etwas Elegantes und Rohes, etwas Wildes und Feinsinniges. Süffige Streicherpassagen werden von knorzenden Fagotten begleitet, gleißende Trompeteneinsätze sorgen für Höhenfeuer. Die Pauker dürfen sich bei der Feuerwerksmusik in einem improvisierten Solo austoben. Und es klingt nicht selten schräg. So schräg, dass man erst mal zusammenzuckt. Falsche Töne? Nein: ungetunedte Hörner!
Während die Trompeten den Parforce-Ritt durch die Partitur als "primi inter pares" meistern, spielen die Hörner sozusagen in ihrer eigenen Stimmung, die vom Klang des übrigen Ensembles abweicht. Nicht nur das elegische "La Paix" (Der Frieden) aus der Feuerwerksmusik mit seinen ausgedehnten Hörnerpassagen steht da harmonisch auf sehr wackeligen "Schwebungen". Auch nach wiederholtem Hören trat bei mir kein Gewöhnungseffekt ein: Schräg bleibt schräg. Im Tutti dagegen sorgen die Verstimmungen zusammen mit dem gewaltigen, schmetternd-röhrigen Klang für aufregend neuartige Sonoritäten. Wie gesagt: wild und rauh.

Und hier kommt dann wieder György Ligeti ins Spiel. Sein Hornkonzert habe ich in MAS Nr. 24 vorgestellt. Da erklingen Naturhörner in unterschiedlicher Stimmung zusammen und produzieren Konsonanzen und Dissonanzen jenseits des temperierten Systems. Ligeti hätte bestimmt seine Freude daran, seine eigenen Ideen da realisiert zu finden, wo er das vielleicht am wenigstens erwartetet hätte: im Kernrepertoire der Sonntagsmatineé! Nur: Bei Ligeti klingt das stimmig, bei Händel stört es. Die Stimmung der Hörner mag authentisch sein. Und bei der Uraufführung hat das wohl auch nicht gestört: Diese damals sehr neue, ungewohnte Musik hat Furore gemacht. Aber heute, daheim vor den Boxen, beim konzentrierten Hören, da funktioniert diese Art von Authentizität nicht so gut.

Impressionen von der Aufnahme im Konzertsal Arsenal de Metz

Unterm Strich gibt es hier zwar eine wirklich neue Klangwelt zu entdecken - auch wenn man sich an die Hörner nicht gewöhnen mag. Aber ob es zu mehr als zu einem "Aha! Interessant! So war das mal gedacht?" reicht? Ob man diese Aufnahme darum immer wieder hören möchte...?
Insgesamt hat mich die Wassermusik mehr als die hemdsärmeliger dargebotene Feuerwerksmusik überzeugt. Aber allein für das Engagement und die Risikofreude, mit der dieses Projekt betrieben wurde, gibt es Extra-Punkte. Und die Präsentation der Aufnahme ist, wie eigentlich immer bei Glossa, die reine Freude.

14 Punkte

Georg Henkel

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