Musik an sich


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Feldman, M. (Widmann – Pomàrico)

Violin and Orchestra


Info
Musikrichtung: Neue Musik Orchester

VÖ: 17.05.2013

(ECM Records / Edel Universal / CD / 2009 / Best. Nr. ECM 2283)

Gesamtspielzeit: 50:39

Internet:

http://www.youtube.com/watch?v=ejggnaE6vfk



IM MUSTERLABYRINTH

Verglichen mit seinen immer konzentrierteren, meist kammermusikalischen Werken der 1980er Jahre darf Morton Feldmans Komposition Violin and Orchestra aus dem Jahr 1979 das Prädikat „opulent“ beanspruchen. Das bedeutet freilich nicht, dass wir es mit einem konventionellen Konzertstück zu tun haben, bei der die Geige in mehr oder weniger virtuosen oder ausdrucksvollen Regionen schwelgt und dabei von einem farbenreich aufspielenden Orchester begleitet wird. Derlei romantischer Klangzauber würde bei einem Musikstück des späten 20. Jahrhunderts überraschen. Schon gar nicht entspräche ein konventionelles Konzert der Ästhetik Morton Feldmans, die sich gängigen Kategorisierungen entzieht und quer zu den Neo- und Avantgardeströmungen seiner Zeit steht.
Bei Feldman liegt der Fokus ganz auf dem Klang. Dessen Entwicklung ist unvorhersehbar und muss dem Material vom Komponisten jedes Mal neu abgelauscht werden. Es gibt keine im Voraus festliegende Struktur oder Form, keine „Idee“ oder irgendein Ziel, auf dass die Musik hinläuft. Es gibt allein den Prozess des Hörens, wenn man so will: des kontemplativen, konzentrierten Lauschens auf das Material. Feldman notiert, was ihm sein Material gleichsam sagt. Er arbeitet im Klang. Und weil es um den Klang selbst geht und nicht seine bunte Oberfläche, reduziert Feldman die musikalischen Parameter radikal, räumt sozusagen alles beiseite, was vom Klang "an sich" ablenken könnte: Die Musik ist überwiegend leise bis sehr leise, die Instrumente sollen mit weichem Einsatz gespielt werden, das Tempo ist langsam und ohne erkennbares Metrum, sie schwingt mehr wie ein leicht bewegtes Atmen. Es gibt viel Raum – Stille – um die Klänge.

In Violin and Orchestra wandert die solistische Violine, die mit Dämpfer gespielt wird und dadurch viel von ihrer charakteristischen Klangfarbe verbirgt, durch die ein groß besetztes Orchester, dass der Komponist allerdings meist als ein vielfach unterteiltes Kammerensemble einsetzt. Das ganze Werk ist ein pausenlos gespielter „Teppich“ von wechselnden bzw. abgewandelt wiederkehrenden Klangmustern. Tatsächlich hat sich Feldman seit den späten 1970er Jahren zunehmend von bestimmten anatolischen Knüpfteppichen anregen lassen. Die handgemachten, unregelmäßigen Symmetrien der Muster und Ornamente faszinierten ihn ebenso wie die fein changierenden Naturfarben. Er übertrug diese Prinzipien auf seine Musik, die im Wesentlichen aus variierten „Patterns“ – Mustern – besteht: knappen, prägnant gefügten Figuren aus wenigen Tönen, wechselnden Texturen oder rhythmischen Bewegungen des Klangs.
In seinem späteren Werk trieb er diese kompositorische Knüpftechnik immer weiter – es entstanden meist klassisch besetze kammermusikalische Werke, die in der Regel alle über 60 Minuten, mitunter aber auch über vier oder, wie das berühmte 2. Streichquartett, bis zu sechs Stunden währen können!
Violin and Orchestra ist ein Werk des Übergangs: experimentell, was die überdurchschnittliche Länge von 50 Minuten und den fantasievollen Einsatz von vielfältigsten Mustern angeht. Da Feldman mit dem vollen Orchester arbeiten konnte, bietet er den Ohren des Hörers wahrhaft exotische Klanglegierungen und feinste Schattierungen an, die selbst Kennern der Avantgarde fremdartig genug anmuten dürften und in der Musik des 20. Jahrhunderts einzigartig dastehen. Oft ist es gar nicht genau zu sagen, welche Instrumente man hört. Der Orchesterklang erscheint regelrecht denaturiert, mehr wie der Schatten, ja „Geist“ des Orchesters. Und doch: wie eigentümlich schön klingt das! Wie tief ist das ausgehört! Feldman kostet die bei aller Abstraktion oft unheimliche Atmosphäre tieffrequenter Klänge oder ätherischer Flageoletts aus und erweist sich trotz der äußerlich asketischen Haltung seiner Musik wieder einmal als großartiger Klangmagier, in dessen Labyrinthen man sich als Hörer liebend gerne verirrt.

Ähnlich reduziert und zugleich einprägsam ist Part der Violine. Diese gibt sich weder als Geige noch als von individueller Künstlerhand gespieltes Ausdrucksinstrument zu erkennen; ihre kurzen Motive wirken wie grafische Figuren auf einer Leinwand, die aus dem immer neu orchestrierten Klang des Orchesters besteht. Carolin Widmann interpretiert ihren schwierigen Part, indem sie ihn mit einer gleichsam gefrorenen, anonymen Vollkommenheit darbietet und auf alle vordergründige Zurschaustellung ihres Könnens verzichtet. Ihr Spiel ist kristallklar und fokussiert, schwebend und noch im Pianissimo intensiv gegenwärtig. Eine "spirituelle Übung" sei das, sagt die Künstlerin, die trozt der nicht-romantischen Haltung des Komponisten das Werk in der romantischen Tradition verwurzelt sieht, denn auch hier gelte, dass die Musik größer sei als ihr Interpret, und sie werde um so größer und ergreifender, je mehr sich der Interpret zurücknehme und sich ganz den Klängen hingebe.
Unter der wachen Leitung von Emilio Pomarico entfaltet das Radiosinfonieorchester Frankfurt Violin and Orchestra als geheimnisvolles abstraktes Stillleben, das von der Tontechnik natürlich und plastisch ausgeleuchtet wurde. Der Klang als der Klang. Nicht mehr, nicht weniger. Eine Reise, bei der der Weg das Ziel ist.



Georg Henkel



Trackliste
Violin and Orchestra (1979) 50:39
Besetzung

Carolin Widman: Violine

Radionsinfonieorchester Frankfurt

Emilio Pomàrico: Leitung



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