Musik an sich


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Britten, B. (Noseda)

War Requiem


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Oratorium

VÖ: 01.05.2012

(LSO live / Note 1 /2 SACD / live 2011 / Best. Nr. LSO0719)

Gesamtspielzeit: 83:48



BLASS

Ohne die konsequent pazifistische Haltung und künstlerische Integrität Benjamin Brittens in Frage stellen zu wollen: Sein War Requiem hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Anlässlich der Katastrophe zweier Weltkriege ist es fraglich, ob die Verwendung typischer Battalia-Elemente wie Fanfaren – und sei es in gebrochener, dabei aber immer noch kenntlicher Gestalt à la Mahler – und stilisierten Kanonendonners im Schlagzeug noch angemessene Ausdrucksmittel sind. Kann man das in apokalyptischen Ängsten befangene „Dies Irae“ überhaupt noch (bzw. auf diese Weise) vertonen? Der Tritonus mag traditionell ein teuflisches Intervall sein – aber nicht erst Olivier Messiaen empfand es als besonders schön. Mag die Intention auch eine ganz andere sein: Derartigen Mitteln haftete bereits zur Entstehungszeit doch etwas kulissenhaftes, filmmusikalisch Verbrauchtes an – sicherlich auch ein Problem der Rezeption und der radikalen Musikentwicklung seit 1945, die ganz neue Klangmittel ins Spiel gebracht hat.
Die geschärfte Harmonik Brittens will zwar eine fatalistische und resignative Haltung zum Ausdruck bringen, kommt heute aber vielleicht einfach weniger erschreckend denn „spannend“ herüber. Gleichwohl beeindruckt, dass der Komponist sich trotz des heiklen Gegenstandes nicht die für ihn gültige musikalische Sprache nehmen lassen wollte und allem Grauen zum Trotz auch der Schönheit ihr Recht einräumt. Brittens Musik orientiert sich am Menschen, will dabei stets unmittelbar fassbar bleiben und die Hoffnung nicht aufgeben. Sie kann dann auch noch ganz ungebrochen von Gott sprechen, wie das hymnische Sanctus demonstriert.
In die sozusagen kontrapunktisch eingeflochtenen Vertonungen mit den Anti-Kriegs-Gedichten Winfried Owens, der in den letzten Tagen des 1. Weltkrieges mit nur 25 Jahren fiel, bricht der Komponist allerdings seine lateinische Totenmesse noch einmal durch eine wesentlich widerständigerer, differenziertere Musik auf: Totentänze ohne liturgischen Glorienschein, die allerdings frei von wohlfeilem Nihilismus sind, wie das für Versöhnung und Erlösung offen Ende des War Requiem zeigt.

Die Aufnahme unter Gianandrea Noseda und dem London Symphony Orchestra ist leider aufnahmetechnisch ziemlich verunglückt. Vor allem bei leiserer Einstellung ist der Klang sehr blass. Aufgrund der extremen dynamischen Spreizung ist häufiges Nachjustieren der Lautstärke erforderlich. Soweit man es sagen kann, hat der Dirigent sich für eine musikalisch zugespitzte Lesart mit aggressiv herausfahrenden Orchester-Gesten entschieden. Selbst die kraftvollsten und dramatischsten Abschnitte des Werks werden nicht naiv oder gar klangmalerisch ausgestellt, sondern sehr bewusst und sicherlich auch im Sinne Brittens als Untergangsmusik gestaltet. Die leider weit nach hinten entrückten Chorstimmen prägen ihren Part auch durch eine mitunter harte oder sehr gedämpfte Artikulation. Sensibel, aber nicht minder konturenscharf agiert das Kammerensemble, das die Einlagen von Tenor und Bariton begleitet und anders als der Rest einigermaßen präsent aufgenommen wurde.
Die beiden männlichen Solisten, Ian Bostridge und Simon Keenlyside, erfüllen mit ihren engagierten und nuancierten Interpretationen Brittens Forderung nach „Schönheit, Intensität und Ernsthaftigkeit“, wobei Bostridge dies müheloser gelingt. Sabina Cvilak meistert ihre expansive Partie ausdrucksstark, mit mitunter deutlichem Vibrato.

Aufgrund der gravierenden tontechnischen Mängel kann die Produktion aber kaum empfohlen werden.



Georg Henkel



Besetzung

Gianandrea Noseda: Leitung

Ian Bostridge: Tenor
Simon Keenlyside: Bartion
Sabina Cvilak: Sopran

London Symphony Chorus
Choir of Elthan College
London Symphony Orchestra


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