Musik an sich


Reviews
Messiaen, O. (Von Osten, S. – Pi-Hsien, Ch.)

Harawi. Chant d’amour et de mort


Info
Musikrichtung: Neue Musik Lied

VÖ: 22.05.2009

(ITM Classics / Codaex CD / DDD / 1993 / Best. Nr. ITM 950011)

Gesamtspielzeit: 42:27



FANTASTISCHE FOLKLORE

Es ist ein Glück, dass diese Einspielung jetzt wieder als preiswerte Neupressung erhältlich ist: Olivier Messiaens Liederzyklus Harawi. Chant d’amour et de mort definierte seinerzeit die Gattung Lied neu, ohne die traditionellen Bahnen ganz zu verlassen. Statt melodisch-motivischer Entwicklung bevorzugt er die archaischereren Strophen-, Refrain- und Ritornellformen. Deutlich bestimmt der Wechsel von charakteristisch (motivisch, harmonisch, rhythmisch) gefärbten Blöcken die musikalische Architektur. Leitmotive schaffen übergreifende Zusammenhänge.
Dieser Rückgriff auf traditionelle Formen harmoniert bestens mit den eigenwilligen Textkreationen. Die nämlich mischen die surreal angehauchte französische Dichtung aus Messiaens Feder mit einer von ihm selbsterfundenen exotischen Sprache – eine Art peruanisches Kauderwelsch (z. B. Nr. 4. Doundou Tchil). Auch musikalisch werden zum Teil ethnische Quellen angezapft und in Messiaens eigene Sprache aus eigenwilligen Tonkomplexen und Motiven übersetzt. Auch an den Messiaen-typischen stilisierten Vogelgesängen fehlt es nicht. So erinnern die Stücke mitunter an eine fantastische Folklore und rituelle Beschwörungen, deren Ton bei aller Schwärmerei auch recht düstere, aggressive, ja verzweifelte Momente hat, wie z. B. die wilden Ahi!-Rufe und die folgenden kalten, grauen „Mapa, nama, mapa nama“-Sequenzen im ersten Teil von Répétition planétaire (Nr. 6). Insgesamt ein faszinierend hybrides Gewächs.

Während für den Instrumentalpart ein mit ausgesprochenem Klangsinn gehandhabtes Klavier gebraucht wird, erfordert die Vokalpartie einen dramatischen Sopran. Keine Isolde oder Brünnhilde, aber eine durchsetzungsfähige und wandlungsfähige Stimme, die zu zarten Tönen ebenso fähig ist wie zum musikalisch-exaltierten Schrei. Sigune von Osten ist diesbezüglich eine ideale Besetzung: Ihr linear geführter Sopran hat ein klares, angenehm kühles Timbre ohne Schrillheit. Der dynamische Ambitus ist groß und die Stimme reich an Farben auch jenseits der klassischen Opern-Skala. Die lyrischen, zauberhaft entrückten Passagen liegen der Sängerin nicht weniger als die ekstatische Deklamation und üppig aufblühende melodische Linien. Das Dunkle, Verstörende der Musik nimmt man ihr ebenso ab wie die schwärmerischen Momente. Pi-Hsien Chen begleitet ebenbürtig mit kristallklaren Farben und präziser Gestaltung der diffizilen Rhythmik.

Eine zum Vergleich herangezogene drei Jahre jüngere Interpretation mit Veronica Lenz Kuhn und Wolfgang Kaiser (Thorofon) wirkt auch wegen des manierierten kehligen Vibratos der Stimme weit weniger überzeugend. Der Ausdruck erscheint puppenhaft, miniaturisiert. Es fehlt an dramatischem Impetus. Besser ist die insgesamt starke, da vokal entschiedenerere, farbigere Interpretation durch Ingrid Kapelle und Hakon Astbo von 2004 (Brilliant). Dabei nimmt sich Kapelles üppige Stimme vergleichsweise konventioneller, opernhafter aus als diejenige von Ostens.

Das Beiheft enthält neben einer bündigen Einführung durch Rudolf Frisius die Originaltexte mit kurzen Erläuterungen des Komponisten in deutscher Übersetzung.



Georg Henkel



Trackliste
01-12 Harawi. Chant d’amour et de mort
Besetzung

Sigune von Osten: Sopran

Pi-Hsien Chen: Klavier



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