Musik an sich


Reviews
Landi, St. (Christie)

Il Sant’Alessio


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 23.05.2008

(Virgin Classics / EMI 2 DVD / live 2007 / Best. Nr: 50999 5189999 8)

Gesamtspielzeit: 162:00



HARDCORE BAROCK

„Wie es in allen Gemeinden der Heiligen üblich ist, sollen die Frauen in der Versammlung schweigen; es ist ihnen nicht gestattet zu reden.“ Dieses Wort des Paulus im 1. Brief an die Gemeinde von Korinth hatte in der christlichen Welt nicht nur weitreichende soziale Folgen, sondern trieb überdies kulturgeschichtlich seltsamste Blüten: Vor allem im Territorium des Papstes, dem bis 1871 große Teile Italiens umfassenden Kirchenstaat, hatten die Frauen sich nicht nur der Lehrtätigkeit und Predigt, sondern - mit Ausnahme von Nonnen in ihren Konventen - auch des Gesangs bei der Messe zu enthalten.
Das Problem der hohen Stimmen bei der mehrstimmigen Musik hatte man lange Zeit auf natürlichem Weg gelöst: durch Knaben und Falsettisten. Seit dem Spätmittelalter griff man aber mehr und mehr auf die virtuosen und tonstarken Kastraten zurück. Dass Papst Sixtus V. die Kastration 1587 bei Todesstrafe verboten hatte, verdrängte lediglich die „Produktion“ der singenden Eunuchen in den Untergrund, hinderte aber ihn und seine Nachfolger nicht daran, mit den trompetenhaft strahlenden Stimmen den Chor der Sitxtinischen Kapelle zu veredeln. Bis zum Tode des letzten Kastraten Alessandro Moreschis 1922 gehörten die „Verschnittenen“ zum festen Bestand (nicht nur) der römischen Kirchemusik. Und das weltliche Genre, die um 1600 entstandene Oper, beherrschten sie immerhin bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.
Dieses profane Vergnügen hatte es im Kirchenstaat freilich schon immer schwerer als andernorts, stand es doch im Ruf, eine Brutstätte sittlicher und moralischer Ausschweifungen zu sein. Die Sängerinnen betörten ihr Publikum eben nicht nur mit vokalen Reizen. Notfalls setzte der Papst höchstpersönlich das Berufsverbot bis hinein in die Paläste musikliebender Kardinäle durch. Um nicht ganz auf das musikalische Drama verzichten zu müssen, pflegte man das Oratorium, bei dem religiöse und biblische Stoffe Rahmen von Andachten für eine fromme Gesinnung sorgen sollten. Dass dabei auch weibliche Rollen zu besetzten waren, spielte keine Rolle: Junge und hübsche Kastraten konnten hier die Primadonnen stimmlich und auch äußerlich leicht ersetzen, sorgten freilich durch das pikante Wechselspiel der Geschlechter für eine eigene Art der Sakral-Erotik.

Dennoch: Die Oper mit ihrer szenischen Ausstrahlung bot Möglichkeiten, die das Oratorium nicht hatte und lockte ein breiteres Publikum. Hochgebildete Kirchenmänner wie Kardinal Giulio Rospigliosi, der spätere Papst Clemens IX, konnten hier ihren literarischen Ambitionen frönen. Als in der römischen Karnevalssaison 1632 Rospigliosis dreiaktige Oper Il Sant’Alessio mit Musik von Stefano Landis uraufgeführt wurde, gebot schon der tiefreligiöse Stoff eine sittlich unbedenkliche, eben rein männliche Besetzung. Die Geschichte vom Büßerheiligen Alexius, der am Tag vor der Hochzeit Braut und Familie als Pilger gen Jerualem verlässt, um nach seiner Rückkehr als frommer Bettler Jahrzehnte unerkannt unter der Treppe des Elternhauses zu verbringen, bis sein Tod allen die Augen öffnet, ist ein Musterbeispiel für einen religiös-asketischen Ego-Trip. Die schöne Musik Landis lässt einen über diesen Extremismus beinahe hinweghören.
Die Hauptrolle wurde 1632 von einem Kastraten gesungen, eine auch für die weltliche Oper richtungsweisende Premiere. Danach wurde die Sopranhöhe für die Heroen zur bevorzugten Stimmlage. Weitere Männer, Kastraten und Falsettisten übernahmen die übrigen, inklusive die weiblichen Rollen. Selbst die Tugenden im Schlussballett wurden von männlichen „Grazien“ getanzt. Pagen und Jünglinge vervollständigten das Ensemble in den Chören. Musikalisch dominiert das sehr ausdrucksvolle, ariose Rezitativ, das die Nuancen des Librettos adäquat umsetzt. „Arien“ oder „Monologe“ sind emotionalen Höhepunkten vorbehalten, dafür gibt es instrumentale Sinfonien vor jedem Akt, Chöre und Tänze sowie ergreifende Ensembles, die die alte Form des Madrigals in chromatisch zugespitzte Ausdrucksbereiche führen. An die Comedia dell’arte erinnern die manchmal etwas gezwungen komischen Rollen der beiden Pagen.

Für moderne Interpreten ist diese spezielle Ästhetik des Werkes eine Herausforderung. Als William Christie und Les Arts Florissants 1991 eine erste Einspielung des Oper auf CD vorlegten, übernahm die engelhaft reine und unüberhörbar feminin timbrierte Patricia Petibon die Hauptrolle. Auch sonst hatte Christie auf ein vorzüglich aufeinander abgestimmtes gemischtes Ensemble gesetzt, in dem Countertenöre die Ausnahme darstellten und bezeichnenderweise für die komischen Rollen eingesetzt wurden.
Das Ergebnis war ohne Zweifel von großer Schönheit. Die artifizielle Darbietung neigte aber auch zu einer gewissen Glätte und Statik. Jetzt macht sich der Dirigent selbst Konkurrenz, und zwar auf DVD. Diesmal sollte es sein wie bei der Uraufführung im 17. Jahrhundert. Zwar gibt es heute keine Kastraten mehr, aber eine genügende Zahl von ausgezeichneten Countertenören steht zur Verfügung. Hört man das Ergebnis, das Christie auf die Bühne von Caen gebracht hat, dann kann man angesichts des geballten Wohlklangs hoher und sehr hoher Männerstimmen schon staunen. 1991 wäre das so wohl noch nicht möglich gewesen. Philippe Jaroussky bietet mit jünglingshafter Stimme und passender asketisch-schlanker Figur eine wesentlich irdischere Interpretation des Heiligen als seine Vorgängerin: weniger verklärt, mehr aus Fleisch und Blut, anrührend trotz der „unnatürlichen“ Stimme. Ausgezeichnet sind auch der reife, fruchtige Mezzoklang von Xavier Sabata als Alexius Mutter und das volle Timbre von Max Emanuel Cencic in der Rolle der verlassenen Braut. Faszinierend auch die höchst androgyne Stimme des jungen Terry Wey, der die Roma bzw. Religione singt. Er vollzieht die barocke Mimikry am überzeugendsten.
Am ehesten bestätigt noch der etwas säuerliche, dünne Ton von Pascal Bertin Vorurteile, die man gegen hohe Männerstimmen haben kann. Die insgesamt acht Countertenöre demonstrieren aber insgesamt das inzwischen selbstverständliche hohe Niveau moderner Falsettisten. Darüber sollte man die anderen Sänger jedoch nicht vergessen: den kraftvoll deklamierenden Alain Buet als Vater und den mit höllisch-imperialer Geste auftretenden nachtschwarzen Bass Luigi de Donato, der dem Oberteufel das nötige dramaturgische Gewicht verleiht. Die Knabenstimmen der Maîtrise de Caen sind zwar von zarterer Statur, fügen sich jedoch auch in den solistischen Partien stimmungsvoll in das Ensemble ein, das von den Herren des Chores von Les Arts Florissants gestellt wird.
Christie lässt schließlich rhythmisch prononcierter und expressiver musizieren und singen als in der Studioproduktion. Was die Lebendigkeit und theatralische Spontaneität angeht, ist die Bühnenproduktion sicherlich die barockere, dramatischere Version von Landis Oper.

Bleibt die Optik. Hier führt der auf historische Theaterformen spezialisierte Benjamin Lazar Regie, der bereits mit zwei Lully-Inszenierungen hervorgetreten ist. Kerzenbeleuchtung, Wandelbühne und prachtvoll verzierte Kostüme inklusive schimmernder Engelflügel bei den Boten den Himmels versetzten das Werk auch szenisch zurück ins 17. Jahrhundert. Die Figuren treten aus dem samtigen Schatten des Bühnenbildes ins Licht. Ein warmer Goldton überzieht die leuchtenden Farben mit einer altmeisterlichen Patina. Bis hinein in die Gestik und Mimik folgt die Darbietung Vorbildern aus der religiösen Malerei der Gegenreformation.
Bühnenbild und Figuren hat Lazar zu bezugreichen Tableaux-vivants komponiert, die sich an den überlieferten Stichen zur Uraufführung orientieren, ohne sie zu kopieren. Diese architektonische Kunst ist vor allem auf Monumentalität und Fernwirkung angelegt. Die affektive Theatralik braucht eine gewisse Distanz, um zu wirken. Immer dann, wenn die Kamera die Totale in den Blick nimmt, funktioniert diese historisierende Konzeption am besten. Wenn sie aber, wie es sehr oft der Fall ist, den Darstellern auf den Körper und das Gesicht rückt, stellen sich unfreiwillig komische Effekte ein. Denn auch mit dicker Theaterschminke lassen sich der Bartschatten und männliche Physiognomie nicht überdecken. Sabata und Cencic wirken zusammen mit Jean-Paul Bonnevalle als Amme dann doch manchmal wie aus einem Monty-Python Film. Gerade die pathetischen Momente verlangen Zuschauer daher eine nicht geringe Abstraktionsleistung ab, was trotz der stimmlichen Meriten Zweifel am Sinn einer solchen Authentizität aufkommen lassen.

Dennoch: Über zwei Stunden bekommt man ein faszinierendes Barocktheater geboten, das sich instrumental und vokal auf der Höhe der Zeit bewegt und zumindest interessante Einblicke in vergangene Zeiten gewährt: Hardcore Barock, den ich aber Kennern und Liebhabern ans Herz legen möchte. Die Punkte gibt es für Wagemut und Originalität.



Georg Henkel



Trackliste
Extras: Interview mit Christie, Lazar und Moaty
Besetzung

Philippe Jaroussky – Alexius
Max Emanuel Cencic – Braut
Alain Buet – Vater Eufemanio
Xavier Sabata – Mutter
Damien Guillon – Page Curtio
José Lemos – Page Martio
Pascal Bertin – Bote
Luigi De Donato – Dämon
Terry Wey – Religion / Rom
Jean-Paul Bonnevalle - Amme
u. a.

Knabenchor und Knabensolisten der Stadt Caen
Chor und Orchester Les Arts Florissants

Ltg.: William Christie

Regie: Benjamin Lazar
Künstlerische Mitarbeiterin: Louise Moaty




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