Musik an sich


Reviews
Diverse Operndiven der 50er-70er Jahre (Schmidt-Garre - Zucker)

Opera Fanatic


Info
Musikrichtung: Dokumentation Gesang

VÖ: 09.05.2008

(Arthaus Musik / Naxos DVD / AD 1999 / Best. Nr. 101 813)

Gesamtspielzeit: 93:00



OPERN-CAMP, LEHRREICH UND PIKANT

Ein bizarres Roadmovie kündigt der Klappentext an. Und auf gewisse Weise ist dieser Dokumentarfilm über italienische Operndiven der 50er bis 70er Jahre genau das. Der exzentrische Tenor Stefan Zucker ist laut Guinness-Buch der Rekorde nicht nur der „höchste Tenor der Welt“ und spricht mit einer nicht immer angenehmen quietschigen Fistelstimme, er ist auch der Herausgeber des Magazins Opera Fanatic, dem der Film seinen Titel verdankt. 1998 machte sich Zucker mit einem Filmteam unter der Regie von Jan Schmidt-Garre auf eine nostalgische Suche quer durch Italien nach den großen Sängerinnen, die die Opernbühnen seiner Kindheit beherrschten. Eine fromme Wallfahrt zu in Ehren ergrauten Vokalkünstlerinnen sollte es nicht werden, auch wenn Zucker zum Teil mit mannsgroßen Blumenbouquets und Pralinenschachteln anrückt und manche Termine zu scheitern drohen, weil Zucker und sein Team die kapriziösen Ansprüche der Diven an Zeit, Ort und passende Fragen nicht befriedigen können.
Zucker interessiert vor allem, wieso die heutigen Sängerinnen trotz technischer Perfektion in ihrem Gesang so wenig von der Energie, Wahrhaftigkeit und seelischen Tiefe der älteren Künstlerlinnengeneration zeigen. Er vermutet das Geheimnis dafür in der Bruststimme, jenem „animalischen“ Organ, dessen kluger Einsatz den Interpretationen das gewisse erschütternde, aber auch erregt-animalische Etwas verliehen habe.

Die Liste seiner Interviewpartnerinnen ist lang. Namen wie Adami Corradetti, Fedora Barbieri, Anita Cerquetti, Gina Cigna, Gigiola Frazzoni, Carla Gavazzi, Leyla Gencer, Magda Olivero, Marcella Pobbe und Giulietta Simionato mögen heute fast nur noch Kennern und Liebhabern etwas sagen, die Damen waren zu ihrer Zeit aber zu Recht Stars. Interessanterweise lehnen die meisten von ihnen im Gespräch mit Zucker den Einsatz des Brustregisters ab und behaupten, sich dieser Technik gar nicht bedient zu haben. Die ausgewählten Ton- und Filmbeispiele demonstrieren allerdings durchaus das Gegenteil! Und: Leyla Gencer hat für solche Behauptungen ihrer Kolleginnen nur ein Lachen übrig.
Die Damen, von denen die eine oder andere zur Zeit des Drehs in den 80er war oder bereits auf die 100 zusteuerte – Geburtsdaten sind in diesem Genre ja bekanntlich immer eine Geheimsache! – brillierten in ihren Hoch-Zeiten vor allem im Verismo, jener hochtheatralischen und manchmal auch überspannten Spätform der klassischen Oper, in der nicht mehr nur schön gesungen, sondern auch geschrieen, gestöhnt und geschluchzt wird, wenn es der Wahrheit des Ausdrucks dient. Italienischer geht’s nimmer!
Wobei die ausgewählten Musikbeispiele aus alten Opern-Bühnen und Opern-Film-Produktionen auf solche Manieren weitgehend verzichten. Sie demonstrieren Gesangskunst, die bereits mit ihrer physischen und gestalterischen Qualität sofort in ihren Bann schlägt , Bruststimme hin oder her. Sieht man einmal von den für heutige Augen konventionellen Inszenierungen ab, dann ist es ein Fest für die Ohren. Gerne hätte man davon noch mehr gehört.
Mit Zucker erliegt man überdies der Vitalität, dem Charme und der Arroganz der Diven. Auch auf Pikanterien verzichtet Zucker nicht. Seine nicht immer diskreten Anspielungen auf das gerüchteweise unkonventionelle Liebesleben der Mezzosoprane geben sie genau so direkt zurück. Barbieri droht ihm sogar mit Schlägen auf den Hintern, ein Vorschlag, der Zucker durchaus zu behagen scheint. Bestimmte Stellen müsse man mit einem Körperteil singen, das sie nicht zu benennen wage, gibt ihm eine andere Gesprächspartnerin zu verstehen. Und auch Zucker verhehlt nicht, dass das Singen eine ziemlich wollüstige Seite hat.
Diese Mischung aus Musikgeschichte, großen Persönlichkeiten, Erotik und Tratsch macht die eigenwillige Wirkung dieses kurzweiligen Camp-Films aus. Er ist ein Lobgesang auf die vokale und charakterliche Individualität, die modernen Hochglanzdiven leider so oft fehlt bzw. die sich als reines Marketing-Konzept entpuppt.



Georg Henkel



Trackliste
keine Extras
Besetzung

Adami Corradetti, Fedora Barbieri, Anita Cerquetti, Gina Cigna, Gigiola Frazzoni, Carla Gavazzi, Leyla Gencer, Magda Olivero, Marcella Pobbe und Giulietta Simionato

Stefan Zucker


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>