Musik an sich


Reviews
Bach, J. S. (Pierlot)

Johannespassion


Info
Musikrichtung: Barock Oratorium

VÖ: 15.04.2011

(Mirare / Harmonia Mundi/ 2 CD / DDD / 2010 / Best. Nr. MIR 136)

Gesamtspielzeit: 114:00



KANTABLE RHETORIK

Nach ihren bemerkenswerten Mess- und Kantateneinspielungen widmen sich Philippe Pierlot und das Ricercar Consort jetzt J. S. Bachs Johannespassion. Mit nur acht Sängern und ca. 20 Instrumentalisten ist dem Ensemble erneut eine eindringliche Interpretation gelungen. Unter den solistisch besetzten Einspielungen dieses Werks ist es bei weitem die gelungenste: vorbildlich in der Balance der vokalen und orchestralen Kräfte, von dramatischem Atem erfüllt und doch intim. Anders als Benoît Haller kommt Pierlot ganz ohne Übertreibungen bei den Tempi und der Agogik aus und erreicht doch die nötige Intensität. Dabei bindet er die Rhetorik organisch in den kantablen Fluss der Musik ein. So wirkt bei Pierlot das ganze Werk wie unter einem großen Bogen musiziert, obwohl es, anders als die spätere Matthäus-Passion, niemals ganz ‚ausgereift‘ ist. Pierlot hält sich im Wesentlichen an die abschließende 4. Version, fügt aus früheren Fassungen allerdings die bemerkenswerte, dramatische Bassarie „Himmel reiße, Welt erbebe“ sowie als zweiten Schluss-Choral „Christe du Lamm Gottes“ ein. Die Architektur wird durch diese Zusätze aber nicht gestört, dafür sorgt schon Pierlots sicheres Gespür für die musikalische Dramaturgie.

Dabei steht ihm ein in weiten Teilen sehr gutes Konzertisten/Ripienisten-Ensemble zur Verfügung. Matthias Vieweg zeichnet den Jesus subtil nicht nur als stillen Dulder, sondern als den Gerechten Gottes, der konsequent für die Wahrheit zeugt. Stephan MacLeod gibt die Basspartien eindrucksvoll; vor allem der Pilatus gewinnt als Gegenpol zur Jesusfigur starkes Gewicht. Herausragend wegen ihrer bedrängenden Intensität ist noch einmal die Arie „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“, die sich überdies durch ausgesprochen präsente Einwürfe des Solisten-Chores auszeichnet.
Hans-Jörg Mammel legt den Evangelistenpart sanglich an, wobei seine Stimme in der Höhe gelegentlich etwas eng wird. Mit diesem Problem kämpft Tenor-Kollege Jan Kobow bei seinen Soli leider unüberhörbar. Vor allem in der herrlichen Arie „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“ lenkt diese Manko doch sehr von der Musik ab. Sehr viel entspannter und klangschöner geht es bei den hohen Stimmen zu: Sowohl Maria Keohane wie auch Carlos Mena bringen die nötige instrumentengleiche Leichtigkeit und expressive Leuchtkraft mit – etwas, das den nämlichen Ausführenden in einer ebenfalls vergleichbaren Einspielung von Jos van Veldhoven (Channel, 2004) leider fehlte. Auch gelang Van Veldhoven nicht eine ähnlich dichte Verzahnung der einzelnen Teile zu einem oratorischen Ganzen.
Im Kollektiv gelingt es, die Turbae-Chöre und Choräle wirkungsvoll zu differenzieren. Bachs ingeniös komponierte Massenhysterie gewinnt dadurch ebenso verschiedene Gesichter wie die Innigkeit der Choräle.

Das Orchester ist bei den tiefen Streichern mit Celli und Kontrabass eher konventionell besetzt; die geschmeidige Rhetorik nimmt durchweg für die Darbietung ein. Zu den interpretatorischen Entscheidungen gibt der ansonsten ausführliche Begleittext einige kurze Hinweise.



Georg Henkel



Besetzung

Hans-Jörg Mammel, Jan Kobow: Tenor
Maria Keohane, Helena Ek: Sopran
Carlos Mena, Jan Börner: Alt
Stephan MacLeod, Matthias Vierweg: Bass

Ricercar Consort

Philippe Pierlot: Leitung & Gambe


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>