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Musik an sich
 
Beethoven-Flop und Beethoven top: Norrington schlägt Müller-Brühl 2:0
Naxos DDD (AD 2000/2001) / Best.Nr. 8.551099, DDD
SWR Faszination Musik / Hänssler Classic DDD (AD 2002, live) / Best.Nr. 93.087 u. 93.088
Klassik / Romantik (instrumental)
Cover Cover
 

Ludwig van Beethoven (1770-1827): Sinfonien Nr. 1 und 2
Kölner Kammerorchester
Ltg.: Helmut Müller-Brühl
www.naxos.de

L.v.Beethoven: Symphonien Nr. 7 und 8 / Symphonie Nr. 9
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
Camilla Nylund - Iris Vermillion - Jonas Kaufmann - Franz-Josef Selig
Gächinger Kantorei
Ltg.: Roger Norrington
www.haenssler-classic.de

Der Plattenmarkt erlebt geradezu eine Beethoven-Renaissance in den letzten Monaten. Grund genug, zwei Neuveröffentlichungen genauer unter die Lupe zu nehmen. Natürlich atmen Beethovens Symphonien Nr. 1 und 2 einen gänzlich anderen Geist als die späten Werke, sind sie doch noch ganz in den Formvorstellungen der Wiener Klassik verhaftet. Die Nr. 1 ist ja geradezu ein Paradebeispiel klassischer Sinfonik. Hingegen weisen die Siebte und Neunte nach Form und Gestaltungsfreiheit weit voraus, überschreiten die Schwelle zur Romantik mit großen Schritten.
Dennoch liegen die Einspielungen Norringtons und Müller-Brühls jedenfalls vom orchestralen Grundansatz nicht allzu weit auseinander: Beide rezipieren ganz ausdrücklich die Erkenntnisse und Erfolge der historischen Aufführungspraxis, (wie sie z. B. John Eliot Gardiner Anfang der 90er Jahre exemplarisch praktiziert hat; sämtliche Sinfonien bei der DG Archiv) - ohne diesen Ansatz allerdings selbst, z. B. was die Instrumente angeht, puristisch zu praktizieren. Norrington greift zu "Mischlösungen", setzt etwa ventillose Naturtrompeten ein und mit Holzschlägeln gespielte Pauken, während Müller-Brühls Kölner Kammerorchester inzwischen ganz zum modernen Instrumentarium zurückgekehrt ist.

Das auch damit grandiose, spannende und erkenntnisreiche Aufführungen möglich sind, hat Müller-Brühl mit einer Reihe erfolgreicher CDs in den vergangenen Jahre gezeigt. Erinnert sei an die preisgekrönten "Darmstädter Ouvertüren" Telemanns, an Vivaldis Flötenkonzerte oder auch einige Teile der Aufnahmen des gesamten Orchesterwerks Johann Sebastian Bachs.
Leider gelingt die Fortsetzung dieser Erfolgsserie im Falle Beethovens nicht. Die Interpretation der ersten Sinfonie ist allerdings schwer zu rezensieren, denn die Tontechniker haben bei der Aufnahme im Funkhaus Köln scheinbar vergessen, die Schutzkappen von den Mikrophonen zu ziehen bzw. von Anfang an jeden Versuch unterlassen, die Aufnahme irgendwie auszusteuern. Der dumpf-gedeckelte Klang erinnert an das, was Mono-Kassettenrekorder ehemals vom weihnachtlichen Familien-Hauskonzert wiedergaben. Bei allem Verständnis für die Sachzwänge, unter denen ein Low-Budget-Label arbeitet: So etwas darf und muss nicht sein und Naxos sollte sich für eine solche Qualität längst zu schade geworden sein.
Nun, soweit man feststellen kann, verpaßt der Hörer aufgrund dieser Defizite jedoch nichts wirklich Bahnbrechendes. Das Spiel des Kölner Kammerorchesters ist ähnlich undifferenziert wie das Klangbild. Das elegische Moment des Seitenthemas im ersten Satz etwa wird völlig eingeebnet, die konventionellen Figuren wirken starr statt spielerisch und insgesamt scheint es, als hätte der Dirigent mit dem Werk wenig anzufangen gewußt, außer, es so schlicht und korrekt wie möglich vom Blatt spielen zu lassen. "Uninspiriert" ist daher noch ein eher mildes Prädikat. Besser nimmt sich da (auch klangtechnisch!) die knapp ein Jahr später aufgenommene Einspielung der zweiten Sinfonie aus. Hier wird zunächst deutlich, wie erfrischend die historische Aufführungspraxis gewirkt hat. Man kann dies leicht feststellen, wenn man zum Vergleich Aufnahmen aus den 70er und 80er Jahren heranzieht, bei denen Beethovens frühe Sinfonien regelmäßig retrospektiv von den späteren Werken her gedacht und mit (vermeintlich) romantischem Dauervibrato und -legato übergossen wurden. Von solchen Anwandlungen ist Müller-Brühl weit entfernt, zugleich aber vermeidet er es, zu sehr unter Hochdruck spielen zu lassen. Er nimmt die Tempi rasch, doch nicht hektisch oder nervig. Dennoch krankt die Interpretation wiederum an einer häufig sinnentleert hohl wirkenden Phrasierung und Akzentuierung, was nicht zuletzt dem laschen Streicherapparat zu danken sein dürfte. So wirkt das von Haus aus pfiffige Scherzo grob und ungeschlacht, der Schlußsatz poltert dem Ende entgegen.

Indes: Es geht auch anders. Norringtons bei Hänssler verlegte CDs bereichern den an Einspielungen nicht eben armen Beethovenplattenmarkt um zwei echte Glanzlichter. Es sind Interpretationen, die dem Beethoven-Kenner genau so empfohlen werden können, wie auch und gerade dem Einsteiger. Da Norrington eine Art Heavy Metal-Beethoven bevorzugt und eine programmatische Sichtweise der Symphonien, kommen zudem all jene auf ihre Kosten, die es knallig, laut, aufregend mögen.
Präzise Orchestereinsätze, Kontrastschärfungen wann immer nur irgendwie möglich und scharfe Phrasierungen bilden einheitliche Charakterzüge beider CDs. Schmetterndes Blech und knallige Paukeneinsätze sind der Lohn des eingangs geschilderten Einsatzes historischer Instrumente.

Und so bekommt der 3.satz der siebten Symphonie ein selten gehörtes Maß an brillantem Drive und Esprit, während das abschließende Allegro con brio vor lauter motorische Energie fast liebenswert übergeschnappt anmutet.
Jene Launigkeit kommt dann auch ungeschmälert der Achten zugute. Diese, ohnehin eine Art großer musikalischer Spaß, eine Abrechnung des Komponisten mit allen Konventionen und Hörerwartungen, präsentiert uns Norrington mit viel Elan und spielerischem Einsatz. Man kann in dem Live-Mitschnitt leicht nachempfinden und heraushören, wie sein Dirigat das glänzend aufgelegte Radio-Sinfonie Orchester mitreißt und zu Höchstleistung anspornt.

Beethovens berühmteste und effektvollste Symphonie, die Neunte, beginnt Norrington mit überraschend stark deutsch-romantischem Ton, aber die Furcht, es könnte einmal mehr zuviel Pathos das Werk durchwehen, zerstreut er alsbald. Zwingend insbesondere seine mitreißende Interpretation des langsamen zweiten Satzes.
Selbst im Schlußchor, der "Ode an die Freude", gelingt ihm die Gratwanderung zwischen Emphase und Kitsch noch stilsicher. Dazu trägt vor allem ein glänzend disponierter Franz-Josef Selig (Baß) bei, der der Gefahr widersteht, sich und seinen Text allzu ernst und gewichtig zu nehmen. Auch Iris Vermillion (Alt, eher wohl: Mezzosopran) und Jonas Kaufmann (Tenor) tragen sicher ihren Teil zum Gelingen bei. Kraftvoll und mit klarer Artikulation besticht zudem die Gächinger Kantorei, wobei der Chor jedoch (einziger klanglicher Makel dieser hänssler Produktionen) nicht differenziert genug aufgezeichnet wurde.
Nur die Sopranistin Camilla Nylund trübt positiven Eindruck bei den Solisten, paßt doch ihre vibratoüberfrachtete Stimme nun so gar nicht ins musikalische Gesamtkonzept.

Sinfonien 1 und 2, Müller-Brühl: 9 von 20 Punkte

Symphonien 7 und 8, Norrington: 19 von 20 Punkte

Symphonie 9, Norrington: 18 von 20 Punkte

Sven Kerkhoff

 

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