Musik an sich


Reviews
Strauss, R. (Gatti)

Elektra


Info
Musikrichtung: Romantik Oper

VÖ: 07.03.2011

(Arthaus / Naxos / DVD / live 2010 / Best. Nr. 101559)

Gesamtspielzeit: 109:00



TRAGÖDIE OHNE ENDE

Richard Strauss‘ einaktige musikalische Tragödie Elektra ist wie eine Wagner-Oper unter Starkstrom. Rund einhundert Minuten währt dieses Schlachtfest auf ein Libretto von Hugo von Hofmannsthal, der dafür die antike Vorlage von Sophokles bearbeitet hat. Einhundert Minuten, in denen die Musik das Drama von Elektra, Klytämnestra, Chrysothemis, Orest und Aegisth mit tiefenpsychologischer Schärfe ausleuchtet und dabei bis an die Grenzen der Tonalität vorstößt. Diese zu überschreiten, hat Strauss dann Arnold Schönberg und Alban Berg überlassen. Das, mit Verlaub, augenrollende Espressivo, dass Strauss Oper antreibt, fand in den späteren zwölftönigen Musikwerken wie z. B. Bergs Woyzzek eine Fortsetzung; die Linien lassen sich ausziehen bis hin zu Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten oder auch Aribert Reimanns Lear.
Bei Strauss sind es vor allem zwei Frauen jenseits des Nervenzusammenbruchs, die sich wie in einem Thriller belauern: Elektra, Tochter des Agamemnon, verzehrt sich in Rachephantasien an ihrer Mutter Klytemnästra und deren Liebhaber Aegisth, die einst den Vater ermordeten. Darüber ist sie zur Ausgestoßenen geworden: wie ein graues Tier, das im Hof des väterlichen Hauses unter strenger Bewachung dahinvegetiert und nur von ihrem Hass am Leben erhalten wird. Die in fanatischen Opferkulten und Orakelgläubigkeit schwelgende Klytemnästra hingegen wird von Albträumen geplagt und fürchtet die Rückkehr ihres Sohnes Orest, der die Rache vollziehen könnte. Elektras Schwester Chrysothemis dagegen ersehnt nichts so sehr wie ein Ende des Konflikts, der wie ein Fluch ihre Chance auf ein normales Leben zerstört. Mit der Rückkehr des todgeglaubten Orest wird sich aller Schicksal erfüllen …

Strauss‘ Musik folgt den meist mono- oder dialogischen Auseinandersetzungen wie ein Bewusstseins-Seismograph. Geradezu mit freudianischem Gespür werden die seelischen Abgründe freigelegt. Kaum einmal gibt es Entspannung, nach kurzem Innehalten steuert die Musik schon auf den Ausbruch zu. Eine bis zum Zerreißen gespannte Spätromantik. Vokal wird das äußerste an Dramatik gefordert. Szenisch kommt es darauf an, die emotionalen Verheerungen in einem Einheitsbühnenbild so einzufangen, dass die überdichte Musik genügend Raum zur Entfaltung bekommt.

In dieser Salzburger Aufführung aus dem Großen Festspielhaus von 2010 ist beides vorzüglich gelungen. Die SängerInnen-Riege ist erste Güte: Iréne Theorins Elektra entäußert sich in gut dosierten Vokalausbrüchen, deren gleißende Ausdrucksspitzen furchterregend sind – Jubel und Hass sind hier austauschbar; es ist an dieser Elektra alles bewusstlose Leidenschaft. Gänsehauterzeugend Waltraud Meier in der Rolle der Klytemnästra: eine divenhafte Megäre. Ausgezeichnet die Klarheit der Diktion, die differenzierte Wucht in der Darstellung des Schmerzes. Sie ist nicht nur ein Monstrum, sondern eine zutiefst unglückliche, verstörte Frau, die sich nach Erlösung sehnt. Eva-Maria Westbroek gibt eine Schwester, die der Elektra von Theorin an Kraft und Ausdrucksnuancierung in nichts nachsteht und gerade dadurch als komplementärer Charakter überzeugt. Markant und kraftvoll der Orest von René Pape. Robert Gambill gibt den Aegisth bei seinem kurzen Auftritt als eitlen tenoralen Gecken. Daniele Gatti hat das Riesenorchester – die Wiener Philharmoniker – fest im Griff und bietet einen kernigen, im Detail blitzenden Instrumentalpart.
Regisseur Nikolaus Lehnhoff versetzt die Szene in eine schräge Kubatur aus Sichtbeton, die wahlweise eine Nekropole oder den Vorhof zu Hölle darstellt. Fenster wie Sichtluken und tresorstarke Türen verstärken den klaustrophobischen Eindruck. Hier gibt es keinen Ausweg: die finale Szene öffnet den Blick in jenes Bad, in dem einst Agamamenon starb. Lehnhoff und er Bühnenbilder Raimund Bauer haben daraus ein weiß gekacheltes, blutbespritztes Schlachthaus gemacht, in dem Klytemnästra von der Decke hängt. Während der Schlussakkorde, nach dem tödlichen Zusammenbruch der Elektra, kriechen aus den aufziehenden Schatten spinnenhaft die Erinnyen: den antiken Rachegeistern entkommt niemand, die Tragödie geht weiter ohne Ende. Ein genialer Einfall!



Georg Henkel



Trackliste
keine Extras
Besetzung

Iréne Theorin: Elektra
Waltraud Meier: Klytemnästra
Eva-Maria Westbroek: Chrysothemis
Orest: René Pape
Robert Gambill: Aegisth

Wiener Philharmoniker
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor

Daniele Gatti: Leitung

Nikolaus Lehnhoff: Regie
Raimund Bauer: Bühne
Andrea Schmidt-Futterer: Kostüme


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>