Musik an sich


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Finkbeiner, R. (Breidenbach – Vis – Ollu u. a)

33 Kurzstücke – Birkenau – Gewalt!- Gewalt? – Von Anfang an suspekt


Info
Musikrichtung: Neue Musik Ensemble / Orchester

VÖ: 22.02.2007

Cadneza / Note 1
CD (AD DDD 1993-2004) / Best. Nr. CAD 800 856


Gesamtspielzeit: 59:17



MIT UND GEGEN DIE MYHTISCHE MACHT DER MUSIK

Er gehörte einst zur Nachkriegsavantgarde, ging dann aber wie viele seiner prominenteren Kollegen seine eigenen Wege und hielt Distanz zum 'Betrieb': der Komponist und Organist Reinhold Finkbeiner (Jg. 1929) . Die vorliegende Produktion mit vier Werken aus den 80er und 90er Jahren ließe sich leicht mit dem Etikett „Politische Musik“ versehen – was dem vielschichtigen Programm allerdings nicht gerecht würde. Spontane Assoziation beim Hören: Bilder von Georg Grosz oder Alfred Hrdlicka.

Mit dem Orchesterstück Birkenau 1997 riskiert Finkbeiner eine musikalische Annäherung an den Holocaust. Zwischen betroffnem Verstummen und peinlichem Pathos gibt es da ja genügend misslungene Versuche einer „Bewätligung“. Finkbeiners klug gewählter Bezugspunkt ist das Mädchenorchester, das dort unter schwierigsten Bedingungen E- und U-Musik für Häftlinge wie KZ-Personal zu produzieren hatte. Der Soundtrack zum Massenmord - grotesk, menschenverachtend, pervers. Finkbeiner schuf vor diesem Hintergrund eine Collage, die die Irrsinn hörbar macht: Fetzen bekannter Musik, zum Teil ins Primitivste verfremdet, zum Teil von Ferne in (tröstlicher?) Schönheit erklingend, werden von aggressiven Geräuschen, Trillerpfeifen, Schlagen, Stampfen und scharfen Sinustönen kontrapunktiert. Die „Musik“ der Täter und die Klänge der Opfer verschmelzen miteinander zu einem unmenschlichen Höllenlärm.
Grell überzeichnete musikalische Gesten bietet auch Gewalt! – Gewalt? von 1988, eine Erinnerungsmusik anlässlich des 50. Jahrestages der Reichsprogromnacht. Äußerungen von Joseph Goebbels, die an mörderischer Deutlichkeit nichts zu wünschen üblich lassen, werden von einem Stimmimitator vorgetragen (im rheinischen Singsang des Propagandaministers – grenzwertig); eine Sopranistin schmettert, singt, würgt, flüstert, kichert und haucht parallel dazu auf eine irische Volksmelodie eine Art Ritualmord-Ballade in englischer Sprache. Dazu Orgelklänge zwischen Brutalität und filigraner Schönheit. Eine große Trommel setzt heftige Akzente. Plakativ, aber auch packend.

Offenbar misstraut Finkbeiner der betäubenden Macht der Musik wie auch ihrer Vereinahmung für spekulative und intellektuelle Glasperlenspiele. Musik ist ihm aber auch nicht einfach Mittel zum Zweck politischer Botschaften. Seine Werke wirken zum einen wie ankomponiert gegen die mythische und verführerische Macht der Musik, zum anderen überlassen sie sich immer wieder ihrer bezwingenden Schönheit, wenngleich diese häufig nur noch maskiert und gebrochen zu vernehmen ist. Grenzgängerische Musik in jeder Beziehung.
Dabei muss es gar nicht immer bierernst und betroffen tönen: Die humorvollen 33 Kurzstücke für 3 Klaviere und einen Pianisten treiben ein verwirrendes und auch provozierendes Spiel mit der sprichwörtlichen Virtuosität des Tastenlöwen, der hier einen normalen Flügel, ein präparierte Klavier und einen verstimmten alten Klimperkasten mitunter gleichzeitig zu traktieren hat. Die in Zitaten vertretene gute alte Konzert- und Hausmusik wird augenzwinkernd auf den Kopf gestellt.
Programmatisch wiederum der Titel Von Anfang an suspekt. Finkbeiner komponierte dieses Stück als Ballettmusik für großes Orchester zur 800-Jahr-Feier der Stadt Heidelberg. Die Tänzer winden sich schmutzigen Würmern gleich über den Boden und bekriegen sich. Dazu ertönt eine explosive Mischung aus pompös-brutalen, in ihrer Wucht aber auch attraktiven Sinfonik-Zitaten, geräuschartigen Schlagzeug-Kaskaden und zartesten, ganz verinnerlichten Klanganmutungen. Finkbeiner hält diese widerständigen, auch hier unauflöslich ineinander verzahnten Elemente in einem heiklen Gleichgewicht.

Die diversen Interpreten legen eindrucksvolle, auch klangtechnisch einwandfreie Einspielungen der sperrigen Werke vor. Ein spannendes Porträt eines Komponisten, der auf dem Plattenmarkt zur Zeit ansonsten nicht vertreten ist.



Georg Henkel



Trackliste
133 Kurzstücke 199918:00
2Birkenau 199712:11
3Gewalt! – Gewalt? 198808:10
4Von Anfang an suspekt 199620:56
Besetzung

Ernst Breidenbach, Klaviere
Reinhold Finkbeiner, Orgel
u. a.

Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks
Franck Ollu / Lucas Vis, Leitung


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