Musik an sich


Reviews
Rameau, J.-P. (Mallon)

Castor et Pollux (Version 1754)


Info
Musikrichtung: Barockoper

VÖ: 10.02.2004

Naxos / Naxos (2 CD DDD (AD 1993) / Best. Nr. 8. 660118-19)

Gesamtspielzeit: 140:43

Internet:

Naxos



LYRISMUS UND WOHLKLANG PUR. LEIDER.

IN ALLEN FASSUNGEN ERFOLGREICH: RAMEAUS DIOSKUREN-DRAMA

Wohl nicht umsonst war Jean-Philippe Rameaus zweite Tragedie lyrique Castor et Pollux sein erfolgreichstes Werk. Dies gilt, anders als bei manchen anderen Opern des Komponisten, bereits für die Erstfassung von 1737. Musikalisch nicht weniger reich, besitzt das Original aber nicht die dramaturgische Stringenz der 1754er Version. Diese wurde wohl nicht umsonst im damals frisch entbrannten Kampf gegen die italienische Opera buffa zum Schlachtschiff eines überlegenen französischen Musikgeschmacks hochstilisiert.

Dass das Werk beim Publikum so über die Maßen gut ankam, lag gewiss an der gewohnt einfallsreichen, auch neuartigen (aber nicht zu schockierenden) Musik Rameaus. Kaum weniger dürfte aber das Libretto für den Erfolg verantwortlich gewesen sein. Es ersetzte die Maschinen-Effekte und Charakter-Stereotype der Barocktragödie durch einen "humaneren" Plot, in der die Menschen und ihre Gefühle im Zentrum stehen, während die beliebten Göttererscheinungen, der übliche Höllenzauber und szenische Special-Effects sich eher dekorativ darum herum gruppierten. Der übliche Konflikt zwischen Götterwesen und Heroen wurde im Beziehungsdrama um die beiden Dioskuren Castor und Pollux zu einer bewegenden Geschichte um wahre Menschen- und Bruderliebe, Verzicht und Opferbereitschaft "ethisiert", was dem aufgeklärt-empfindsamen Geschmack der Zuschauer ohne Frage ebenso entgegenkam, wie das Festhalten an der französischen Operntradition.

ZUM OHNMÄCHTIG WERDEN: RAMEAUS MUSIKALISCHE COUPS

Rameau reagierte auf die Vorlage mit einer Musik, die sicherlich zu seinen elegischsten Schöpfungen gehört. Eindrucksvoll gelang ihm die Charakterisierung der Hauptfiguren und ihrer Konflikte. Die großen Monologe zeichnen sich zwar mitunter durch eine gewagte Harmonik aus. Diese wirkt aber, verglichen mit den offensiven Dissonanzkulminationen seines Erstlings Hippolyte et Aricie, mehr atmosphärisch. Dazu kommen eine für französische Verhältnisse geradezu geschmeidige Melodik, lyrische Reziative und delikate Instrumentalkombinationen. Die Orchestrierung ist insgesamt weicher als bei den Vorgängerwerken. Zudem ist der verinnerlichte Ton in der Zweitfassung, die den psychologischen Aspekt noch vertieft, eher noch stärker als in Erstfassung ausgeprägt.
Abgesehen davon gelangen Rameau aber auch wieder einige aufregend musiktheatralische Coups: Z. B. mit dem Trauermarsch der Spartaner, der in der Version von 1754 dann unmittelbar durch eine kühne Modulation mit dem Klagegesang der Télaïre verbunden wird (empfindsame Damen im Publikum fielen darob in Ohnmacht). Bei diesem Air mit obligatem Fagott, das seine unvergleichlich pathetische Spannung aus dem harmonischen Wechsel von Dominante und Subdominante bezieht, handelt es sich um eine der berühmtesten Stücke überhaupt aus dem Repertoire der französischen Barockoper. Nicht weniger wirkungsvoll ist die betörende Musik, mit der der Komponist den Auftritt der Göttin Hebé und ihres Gefolges zu einem klingenden Vision des Paradieses werden läßt. Besonders beeindruckt zeigte sich das damalige Publikum von der Szene am Eingang zu Unterwelt: Rameau komponiert hier eine große Szene mit Ensembles, Tänzen und Chören, mit dem Dämonenchor "Brisons tous nos fers und seinen frenetischen Rhythmen als Höhepunkt.

GUTE SÄNGER, ABER KONTRASTARM UND SPANNUNGSLOS: MALLONS VERSION DER 2. FASSUNG

Hört man diesen Chor im Vergleich mit der Hébé-Szene in der vorliegenden Aufnahme des kanadischen Aradia Ensembles unter Kevin Mallon, dann weiß man, wo die interpretatorischen Stärken und Grenzen bei dieser Neueinspielung liegen.
Dass es sich im ersten Fall um höllisches Personal handelt (wütendes höllisches Personal, wohlgemerkt), das dem Helden Pollux den Eingang zu seinem unterirdischen Reich verwehren will, muss man sich vorstellen - recht hörbar wird es nicht. Zwar zieht der Dirigent das Tempo an. Aber mehr als ein gut ausbalanciertes chorisch-instrumentales Klangbild macht er aus der Vorlage nicht. Die erregte Motorik, das Wogen der Einsätze, die hämmernde Deklamation - all das will nicht recht zünden (in der Vergleichseinspielung der Erstfassung unter William Christie [HMF 1991] kann man das alles dagegen bei ähnlich lyrischer Grundauffassung eindrucksvoll erleben).
Auch bei den übrigen Nummern dieses Abschnitts spürt man nicht wirklich, dass es sich um eine große dramatische Kontrast-Szene zum vorangegangenen Auftritt der Hebé und ihrer himmlischen Freuden handelt. Doch ohne diese Kontrast verlieren auch die Leiden der Hauptpersonen, ihre Begierden und Konflikte an innerer Notwendigkeit.
Die Hebé-Episode läßt Mallon dagegen ganz angemessen schön und entrückt musizieren - doch entrückt und schön klingt auf dieser Aufnahme, auch dank des vorzüglichen Orchesters und gut disponierten Chores, fast alles. Da beginnt Rameaus Musik, die sonst häufig wegen ihrer Kurzatmigkeit kritisiert wird, dann tatsächlich einmal Fäden zu ziehen. Was den durchweg guten Solisten Zeit und Gelegenheit zur ausdrucksvollen Deklamation gibt, läßt die meisten Tänze nur dekorativ, ja blass und unverbindlich erscheinen. Kaum einmal entwickeln sie jene athletische Energie oder dramatische Stimmigkeit, die sie sonst zu Höhepunkten einer Rameau-Oper werden lassen.

Diese Oper, zumal in der überarbeiteten Fassung, elegisch und lyrisch anzulegen, ist das eine. Ihr damit die dramatische Binnenspannung auszutreiben, das andere.



Georg Henkel



Besetzung

Colin Ainsworth (Castor)
Joshua Hopkins (Pollux)
Monica Wicher (Télaïre)
Meredith Hall (Phébé / Hébé)
Giles Tomkins (Jupiter)

Opera In Concert
Aradia Ensemble

Ltg. Kevin Mallon



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