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Musik an sich
 
Gleichgewichtige Alternative: Bachs MATTHÄUS-PASSION in solistischer Besetzung
(Deutsche Grammophon Archiv 2 CD DDD (AD 2002) / 474 200-2)
Barock - Oratorium
Cover
 

Deborah York, Julia Gooding (Sopran); Magdalena Kozená, Susan Bickley (Mezzosopran); Mark Padmore, James Gilchrist (Tenor); Peter Harvey, Stephan Loges (Bass)
Gabrieli Players
Paul McCreesh

Der britische Dirigent Paul McCreesh, der seinem undogmatischen, kraftvollen Musizierstil den Spitznamen Paul McLoud verdankt, eröffnet in seiner Version der Matthäus-Passion einmal wirklich eine neue, in der Tat "unerhörte" Perspektive auf Bachs vielgespieltes kirchenmusikalisches Opus Summum. Er macht Ernst mit den jüngsten, nicht unumstrittenen Ergebnissen der Bachforschung, indem er die beiden "Chöre" solistisch besetzen und mit entsprechend verschlankten Orchestern musizieren läßt. Das heißt ganz konkret: Die oben angeführten Sänger/innen übernehmen sämtliche Partien - Chöre, Choräle, Arien und handelnde Personen. Lediglich die obligaten Choralmelodien im Eingangs- und Schlusschor von Teil I. werden noch durch eine weitere Sopranistin ausgeführt (eine mögliche, aber nicht unbedingt zwingende Lösung, dazu genauer der Organist Timothy Roberts im Booklet zur Aufnahme).

BACHS "SOLISTISCHE CHÖRE" - KEIN ENDE DER DISKUSSION IN SICHT

Diese Idee ist indes nicht neu. Bereits Anfang der 80er Jahre hatte zuerst der amerikanische Musikwissenschaftler Joshua Rifkin die kühne These einer lediglich einstimmigen Besetzung vertreten und auch in einigen Kantateneinspielungen praktiziert (in den 80er Jahren bei L'Oiseau-Lyre / Decca erschienen). Sein britischer Kollege Andrew Parrott entwickelte diesen Ansatz weiter. Er trug immer neue Beweise für die damals offenbar nicht nur bei Bach in Leipzig übliche Kleinstbesetzung zusammen (inzwischen als Buch erschienen: Bachs Chor. Fakten und Fiktionen, Stuttgart 2003) und ließ ebenfalls solistisch musizieren (z. B. Bachs Osteroratorium und Magnificat, EMI 1989/93). Allerdings haben einige Versuche in diese Richtung - z. B. mit der für Bach nicht gerade typischen H-Moll-Messe - auch die Grenzen dieses Konzepts aufgezeigt.

Die These einer im Kern solistischen Besetzung des Chores, dessen Grundstimmen gelegentlich durch sogenannte Ripieno-Stimmen (also Füll-Stimmen) verdoppelt werden, ist bei vielen Hörern, renommierten Bachforschern und ausführenden Musikern auf Spott, manchmal auch zornigen, ja erbitterten Widerstand gestoßen. Dabei hatten gerade die Verfechter der historischen Aufführungspraxis wesentlichen Anteil an der heute üblichen Reduktion des Chores von den früher üblichen Hundertschaften auf 24-36 Sänger/innen gehabt. Und eine solistische Ausführung protestantischer Kirchenmusik des 17. Jahrhunderts, so von Dietrich Buxtehude oder Heinrich Schütz, gilt als Konsens, ohne dass damit umgekehrt eine mehrstimmige Ausführung kategorisch ausgeschlossen wäre.

Bei Bach, so scheint es, wird die Entscheidung über die Zahl der Choristen zur Glaubensfrage. Im Fall der Matthäus-Passion dürfte die Ursache für den Widerstand nichts zuletzt darin liegen, dass sie seit dem 19. Jahrhundert wie kaum ein anderes Werk religiöser Musik fest in den säkularen Kulturbetrieb integriert und viel stärker durch eine romantische Aufführungstradition geprägt ist, als die Kompositionen anderer barocker Komponisten. Nikolaus Harnoncourts erste "historisierende" Deutung (Teldec 1968) hat ebenfalls heftige Kritik provoziert und setzte dann doch einen Maßstab, an dem auf die Dauer selbst die "Traditionalisten" nicht vorbeikamen.

Paul McCreesh, zunächst sehr skeptisch, tastete sich langsam an die solistische Besetzung heran. Seine ersten Aufnahmen in dieser Richtung betrachtet er inzwischen als Experimente mit Übergangscharakter (darunter eine rekonstruierte Bach-Weihnachtsmesse). Sänger wie Instrumentalisten hätten erst umlernen und eine neue Ästhetik entwickeln müssen. In der kleinen Besetzung stellten sich Balance und Dramatik wie von selbst ein, wenn man das überakzentuierte und aggressive Musizieren, mit dem bei größeren Ensembles gewöhnlich die Volks-Chöre der Matthäus-Passion ausgeführt werden, vermeide. Ebenso müsse die bis ins 19. Jahrhundert übliche Aufstellung des Chores VOR dem Orchester berücksichtigt werden (so McCreesh in einem Interview des Online-Magazins andante.com).

Wie auch immer: Man kann obige Diskussion weiter zuspitzen, historische, musikalische, künstlerische, ideologische oder auch emotionale Gründe für oder gegen eine solistische Besetzung haben. Man kann aber, oder besser: man sollte eigentlich auch alle musikhistorischen Relativierungen beiseite lassen können, damit Bachs Musik am Ende nicht nur noch auf diese Fragen reduziert wird. Das technisch Machbare kann nicht das alleinige Kriterium sein. Historische Korrektheit und Sachgemäßheit führen nicht automatisch ins Zentrum der Matthäus-Passion, bringen keine packende, bewegende, spirituelle Interpretation hervor. Paul McCreesh wäre sicherlich der letzte, der das bestreiten wollte. Er beansprucht auch nicht, den "Stein der Weisen" gefunden und eine definitive Aufnahme vorgelegt zu haben, die alle vorherigen zur Makulatur werden ließe: "Letztlich interessiert mich Musikwissenschaft nur in dem Maße, wie sie mich als Musiker voranbringt. Zweck der Übung ist nicht, eine wissenschaftliche Theorie zu beweisen, sondern den Leuten die Ohren zu öffnen für die fantastischen Möglichkeiten, die diese Art der Aufführung von Bachs Musik eröffnet."

Um es hier gleich vorwegzunehmen: Noch während ich die McCreesh-Einspielung erstmalig im Ganzen hörte, trat die Frage nach der Besetzungsstärke, nach den historischen Instrumenten, den "richtigen" Stimmen etc. völlig in den Hintergrund. Was blieb, war das unmittelbare, bewegende Erlebnis der Musik, ihres Reichtums, ihrer Komplexität, ihrer geistigen und sinnlichen Ausdrucksfülle - und Schönheit. Das Ergebnis überzeugt vollkommen, nicht nur in den Grenzen des gewählten Ansatzes, sondern auch im Vergleich mit anderen Einspielungen.

DER "SWING" IM EINGANGSCHOR - ODER: WAS HEISST HIER ANDACHT?

Der berühmte Eingangschor verändert selbst gegenüber den anderen "historisierenden" Einspielungen noch einmal erheblich seinen Charakter. Nimmt man gar Karl Richters Aufnahme von 1979 (ebenfalls DG Archiv) zum Maßstab, kann man sogar von einem ganz neuen Stück sprechen. McCreesh benötigt 6, Richter fast 11 Minuten. Freilich läßt sich eine getragene Langsamkeit bis zum Beinahe-Stillstand mit acht bzw. neun Sänger/innen schon technisch nicht realisieren.

Neben der kleinen Besetzung sorgt eine sehr nuancierte Dynamik und Phrasierung dafür, dass die komplexe Mehrstimmigkeit dieses Chores in ungewohnter, subjektiv gefärbter Leidenschaftlichkeit erklingt. Das Resultät ist nicht so sehr eine bessere Durchhörbarkeit (die kann auch mit großen Ensembles erreicht werden), als eine größere Profilierung der Einzelstimmen (im Instrumentalen gilt dies besonders für die Bläser, die gegenüber den Streichern in den Vordergrund treten). Auf diese Weise werden dem Chorsatz bislang so nicht gehörte "Perspektiven" abgewonnen; stellenweise meint man sogar, mehr Stimmen zu hören als bei den größeren chorischen Besetzungen. Hier werden also keine "Massen" musikalisch organisiert, sondern Individuen vereinigen zur Gemeinde im Raum der Musik: mit ihrer Trauer, ihren Ängsten, ihren Fragen und Hoffnungen. Immer wieder treten einzelne Stimmen aus dem dichten Geflecht hervor und finden wieder in dieses hinein. So dargeboten, gelingt gewissermaßen der Spagat zwischen "offizieller" lutherischer Orthodoxie und einer sehr persönlich, mystisch gefärbten pietistischen Frömmigkeit.

Ohrenfällig ist auch, wie der komplexe Aussagegehalt dieses Chores zur Geltung gebracht wird: Da verbindet sich die Klage über das Leiden Christi und die menschliche Schuld mit der (vorausblickenden) Freude über die Erlösung und Auferstehung. Die Kombination von 12/8-Takt (der aus der Tanzmusik entlehnte, von McCreesh lebhaft wiegend dargebotene Siziliano-Rhythmus), Tonart E-Moll und melodischer Trauergestus führt zu einer ungewöhnlich, ja gewagten Lösung, die schon die Zeitgenossen verblüfft, wenn nicht verwirrt haben dürfte. Wie Bach hier Theologie ingeniös in Musik übersetzt, läßt sich besonders anhand der Mittelteils verfolgen, wo sich die beiden Chöre emphatisch Fragen und Antworten zurufen: "Sehet! - Wen? - Den Bräutigam! / Seht ihn! - Wie - Als wie ein Lamm! / Sehet! - Was? - Seht die Geduld! / Seht! - Wohin, wohin, wohin? - Auf unsere Schuld!" Und die Orchester tanzen dazu, am schwungvollsten auf dem letzten Vers, während im darüberliegenden Choral die Worte "All Sünd' hast du getragen" intoniert werden! Anschaulicher läßt sich das christliche Paradox der "felix culpa", der "glücklichen Schuld", kaum darstellen. Glücklich ist die Schuld der Menschen deshalb, weil sie vergeben ist und zu Gottes Heilswerk geführt hat, das am Ende alles neu machen und die unvollkommene erste (aktuelle) Schöpfung in eine vollkommene zweite Schöpfung hineinverwandeln wird.

Was die vielbeschworene "Andacht" des Eingangschores angeht, so lautet der traditionelle Einwand fast immer, dass sie durch die schnellen Tempi verloren gehe. In der Tat wählt McCreesh die zügigsten Tempi von allen mir bekannten Einspielungen. Aber was heißt hier "Andacht"? Durch das flexible, "swingende" Musizieren wird der Aspekt der "Andacht", der vor allem in den älteren Einspielungen meistens aus der Perspektive des 19. Jahrhundert als innere und äußere Ruhigstellung und stilles In-Sich-Hineinhorchen aufgefaßt wird, durch eine dynamischere "barocke" Auffassung ersetzt. An die Stelle erhabener, distanzierter Monumentalität tritt die individuelle Ansprache, ja Konforntation. Andacht kann eben auch innere und äußere Bewegung, Erregung, ja Ekstase bedeuten. In dieser Einspielung werden die Zuhörer geradezu sogartig in das Geschehen der Passion Christi hineingezogen.

Übrigens lasse man sich nicht davon täuschen, dass diese Einspielung nur auf zwei CDs statt der üblichen drei angeboten wird: Deren Spielzeit wurde mit 80 bzw. 81 Minuten maximal ausgenutzt. Und aufs Ganze gesehen läßt sich McCreesh, allen Vorurteilen zum Trotz, mehr Zeit als mancher Kollege. Entscheidender ist jedoch, dass die Relationen stimmen, Dramatik und Kontemplation in der rechten Weise ausbalanciert sind.

GESCHLOSSENHEIT UND INTIMITÄT

Die solistische Disposition trägt wesentlich dazu bei, dass die Matthäus-Passion nicht in einzelne Sätze und Ensembles zerfällt, sondern sich zu einem großen Ganzen fügt. Bei aller Konzentration der Mittel klingt die Musik jedoch niemals dünn. Ebensowenig werden die Kontraste eingeebnet. Diese sind hier jedoch eher qualitativer als quantitativer Natur. So kommt in den Volks-Chören die dichte Mehrstimmigkeit und dissonanzengeschärfte Harmonik sehr viel prägnanter heraus - und damit jene Dramatik (und Psychologie), die Bach hier mit rein musikalischen Mitteln angelegt hat. Auf diese Weise durchmisst z. B. die knappe Fuge "Lass ihn kreuzigen" vom ersten Einsatz der Bässe bis zur finalen Vollstimmigkeit einen viel größeren dynamischen Spielraum, obwohl der "Massencharakter" fehlt. Das "Ja nicht auf das Fest", mit dem die Hohepriester und Schriftgelehrten die Ermordung Jesu beschließen, wird mit verschwörerischem Unterton gesungen, furchtsam und betroffen klingt dagegen die Frage der Jünger "Herr, bin ichs?". Schließlich dürfte die individuelle, aber keineswegs überzogene Gestaltung der volltönenden Choräle, die hier gerade nicht als trockene "Chorrezitative" (J. E. Gardiner) missverstanden werden, auch Skeptiker überzeugen.

Bewegend in ihrer Intimität geraten auch die Einwürfe von Chor II in die Arien von Chor I. Während die großen Chöre in den traditionellen Einspielungen meist von hinten und aufnahmetechnisch diszipliniert in das musikalische Geschehen eingreifen, ergibt sich bei der solistischen Besetzung der Dialog zwischen "Tochter Zion" (Chor I) und "Gläubigen" (Chor II) wie von selbst. Geradezu betörend klingen da z. B. die an kunstvolle Madrigale erinnernden Chor-Einsätze in der Tenorarie "Ich will bei meinem Jesu wachen (CD 1 / Track 20), tröstlich, ja zärtlich dagegen die aus dem Hohelied stammenden Pendants in der Altarie "Ach, nun ist mein Jesus hin" (CD 2 / Track 30): "Wo ist denn dein Freund hingegangen, O du schönste unter den Weibern?". Eine solche Darbietung wirkt auf den Hörer wesentlich unmittelbarer, weil er schon räumlich viel näher am Geschehen ist. Freilich - und das mutet geradezu paradox an - ist eine derart "intimisierte" Matthäus-Passion auch dort angekommen, wo sie heute von den meisten Menschen als private (Andachts)Musik rezipiert wird: im Wohnzimmer.

EXPRESSIVITÄT UND SUBTILITÄT

In den Arien agieren sämtliche der vorzüglichen Vokalisten mit einem weitem, individuellem Ausdrucksspektrum, ohne melodramatisches Pathos, aber auch ohne fromme Blässe. Getragen werden sie von einem sensibel, sehr klangschön spielenden Orchester, das über den Figuren der barocken Klangrede nie den größeren Zusammenhang aus dem Blick verliert. Die instrumentale Deklamation ist atmend und natürlich, überdies wird sie durch eine räumliche und warme Kirchenakustik unterstützt. Da scheinen Flöte und Oboe da caccia in "Aus Liebe will mein Heiland sterben" (CD 2 / Track 14) mit der entrückten Stimme von Deborah York geradewegs davonzuschweben. Um so größer dann der nachgerade schockierende Kontrast zum anschließenden "Kreuzige-Chor".

Dem ganzen Unternehmen kommt der Einsatz einer ausgewachsenen Orgel (Chor I) in Kombination mit einem kleineren Positiv (Chor II) zugute - eine Lösung, die nicht nur den historischen Gegebenheiten in der Leipziger Thomaskirche, sondern auch den "traditionellen" Einspielungen in der Art eines Karl Richters näher steht, als den meisten "Historisten" mit ihren zwei kleinen Truhenorgeln. Der Reichtum an Klangfarben und dynamischen Kontrasten wird sehr überlegt eingesetzt und verleiht besonders den Rezitativen des Evangelisten an Eindringlichkeit.

In dieser Partie überwältigt Mark Padmore, dem die Balance von "objektiver" Schilderung und "subjektiver" Einfühlung vollkommen gelingt. Er agiert nicht wie ein über dem Geschehen stehender visionärer Evangelist, sondern als unmittelbar gegenwärtiger Augenzeuge. Mit großer gestalterischer Intelligenz färbt Padmore dabei jede Phrase, jedes Wort und verwandelt sie in bewegende Aktion - sicherlich eine neue Referenz. Verhaltener, aber angemessen unsalbungsvoll dagegen der jugendliche Christus von Peter Harvey. Dessen Rezitativ und Arie "Am Abend, da es kühle war" und "Mach dich, mein Herze, rein" (CD 2 / Track 29 u. 30) sind Höhepunkte der Einspielung. In den Alt- und Mezzosopranarien ergreifen Magdalena Kozéna und Susan Bickley gleichermaßen, erstere besonders durch die herrliche Farbe ihrer Stimme, letztere durch eine differenzierte Wortgestaltung. Nicht weniger intensiv, dabei in der Hingabe an Worte und Musik völlig uneitel ist der Vortrag von Deborah York, Julia Gooding, James Gilchrist und Stephan Loges.

Selbst wenn sich die solistische Chorbesetzung schließlich doch als musikwissenschaftlicher Irrtum erweisen sollte: Diese rundum gelungene Matthäus-Passion eröffnet eine Fülle neuer, bislang ungehörter Perspektiven auf Bachs Werk. Sie empfiehlt sich nicht nur als Ergänzung zu den großen chorischen Einspielungen, sondern als gleichgewichtige Alternative.

20 von 20 Punkte

Georg Henkel

www.deutschegrammophon.com
www.klassikakzente.de

 

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